Wandern bedeutet, sich auf einen Dialog mit einer Landschaft einzulassen. Das Gehen ist ein behutsames Fragen, und die Landschaft ›antwortet‹ im Zeitmaß dieses Gehens.
Man wählt dabei einen Weg, eine Route. Zumindest mache ich das so. Der Weg wählt nicht mich, sondern ich wähle ihn, und oft gibt es unterwegs Gründe, von der bloß ungefähr geplanten Route abzuweichen. Ich verschaffe mir vorher einen Überblick über die Gegend, in der ich unterwegs bin. Wandern heißt, sich in einer Landschaft orientieren.
Man könnte sich eine Karte vorstellen, auf der die vorhandenen Wege nach Breite, Bodenbeschaffenheit und irgendwelchen ästhetischen Kriterien graphisch und farblich unterschiedlich dargestellt sind. Vielleicht wäre das hilfreich, um Asphaltwege und breite Forststraßen zu vermeiden.
Man könnte sich auch eine Karte vorstellen, auf der empfehlenswerte Wanderstrecken schon hervorgehoben sind. Das gibt es natürlich als klassische Wanderkarte, als topographische Karte mit Wanderwegen. Dergleichen benutze ich oft.
Man könnte sich ferner vorstellen, dass einem jemand entgegenkommt, einem die Karte aus der Hand nimmt und sagt: »Gib mir die Karte, die brauchst Du nicht. Ich nehme Dich bei der Hand und führe Dich auf den besten Weg und zeige Dir etwas Interessantes. Du brauchst Dich nicht zu orientieren. Die Fläche und das übrige Wegenetz gehen Dich nichts an. Was es zu erkunden gibt, habe ich schon für Dich erkundet. Ich habe untersucht, was die Menschen erleben wollen, und habe mein Angebot optimiert. Alles, was Du ohne meine Hilfe tun könntest, würde dahinter zurückbleiben.«
Es ist leicht zu erkennen, dass dies letzte Modell mit dem eingangs vorgeschlagenen Gedanken eines ›Dialogs mit der Landschaft‹ überhaupt nicht zu vereinbaren ist. Es ist, als träte im Dialog ein Dritter hinzu und begänne auf mich einzureden – mir zu erzählen, was mit meinem Gesprächspartner ›eigentlich‹ los sei.
In der Theorie des Premiumwanderns bezeichnet man dieses Ansinnen ganz unverhohlen als ›Erlebnisinszenierung‹ (englisch: experience engineering). Zum Rothaarsteig, dem ja beim ›Neuen Wandern‹ eine Vorreiterrolle zukommt, gibt es eine entsprechende Studie von Jan Gerlach (Institut für Natursport und Ökologie der Deutschen Sporthochschule Köln):
Effektivität von Erlebnisinszenierung bei infrastrukturgebundenen Outdooraktivitäten – Qualitative Studie am Beispiel des Fernwanderwegs Rothaarsteig [Schriftenreihe Natursport und Ökologie, Bd. 30], Köln 2012.
Das Ergebnis dieser Untersuchung ist (wenn man Gerlachs Zusammenfassung trauen darf), dass es mit der Erlebnisinszenierung schon so weit ganz gut klappt, dass die aber noch ausgebaut werden kann:
»Der Vergleich der Ziele der Inszenierungsmaßnahmen mit den erfassten Erlebnissen zeigt, dass der Großteil der gegenwärtigen Erlebnisinszenierungsmaßnahmen am Rothaarsteig eine hohe Effektivität aufweist und zur Entstehung erhoffter Erlebnisse beiträgt. Die ermittelten zusätzlichen Erlebniskategorien und aktuelle Entwicklungen im Wandertourismus bieten Potentiale für erweiterte Erlebnisinszenierungskonzepte des Rothaarsteigs und für Outdooraktivitäten wie z.B. dem Wandern an anderen Orten.«
Falls dem Autor jemals irgendwelche Zweifel an der Angemessenheit oder der Menschenfreundlichkeit des Konzepts ›Erlebnisinszenierung‹ gekommen sein sollten, hat er sich das in der Zusammenfassung seiner Arbeit jedenfalls nicht anmerken lassen.
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