Tageswanderung zum Baasee

Sonnabend, 4. März 2017 (12,5 km)

Wandern ist ein Hobby der weißen Mittelschicht des globalen Nordens. An dieser Einsicht führt sozusagen kein Weg vorbei, auch wenn das Thema einer ethnischen Segregation des Outdoor-Sports im Allgemeinen und des Wanderns im Besonderen in der deutschsprachigen Tourismusforschung so gut wie keine Rolle zu spielen scheint. Man weiß das einfach aus der Alltagserfahrung und redet normalerweise nicht darüber. Besonders gewitzte Zeitgenossen würden vielleicht erklären, dass ihnen die Hautfarbe ohnehin nichts bedeutet und sie daher nicht darauf achten, ob ihnen auf einem Wanderweg jemals ein Mensch mit dunkler Hautfarbe begegnet ist.

Wenn man sich trotzdem einen historischen oder soziologischen Reim auf das Phänomen machen möchte, kann man auf die Hypothese zurückgreifen, dass das Wandern als Freizeitaktivität in seinem Ursprung mit einer Kritik der modernen Industriegesellschaft verbunden ist – ein Motiv, das in der performativen Wildnissehnsucht vieler Wanderer bis heute nachwirkt. Kulturell stabil ist eine solche reaktive Motivation daher vor allem in den Kulturen des Nordens, die von urbaner Leitkultur und früher Industrialisierung geprägt sind.

Nun muss man allerdings anderen Menschen nicht unbedingt die Kultur ihrer Vorfahren in die Schuhe schieben. Und auch die Tatsache, dass in einigen Kulturen des Nordens das Wandern als etwas ›manchmal Schönes‹ anerkannt ist, ist eben nur das kontingente Ergebnis der erwähnten Vorgeschichte: Es hätte anders kommen können. Die kulturelle Prägung schlägt sich somit zwar in einer Alltagsstatistik nieder (der zufolge Menschen mit ›südländischem‹ Migrationshintergrund hierzulande selten auf Wanderwegen angetroffen werden), aber diese Statistik sagt nur, was meistens geschieht, und nicht, was man sonst noch tun könnte.

Deshalb habe ich diesmal meinem Mitbewohner Ismael (Künstler aus der Dominikanischen Republik) meine österreichischen Feldstiefel als Wanderschuhe angedient und mit ihm in Brandenburg eine Tagestour unternommen. Seine letzte Wanderung liegt viele Jahre zurück, und ähnlich wie bei manchem Deutschen war das eine Wanderung im Rahmen des Militärdienstes. Da die Schuhe also ungewohnt waren, habe ich vorsorglich eine kurze Route von 13 km herausgesucht, die von Altranft im Odertal über Sonnenburg und Baasee nach Bad Freienwalde führt.

 

Ist Brandenburg eine No-go-Area für Menschen mit dunkler Hautfarbe? Auch diese Frage steht irgendwie im Raum oder vielmehr als heißer Brei auf dem Tisch, aber ich kann sie nicht beantworten. Wir sind jedenfalls hingegangen und unbehelligt wieder ins heilige Berlin zurückgekehrt. Man hat uns angeschaut, mitunter auch etwas länger als die Höflichkeit es gebietet, aber die Blicke waren zurückhaltend-respektvoll oder freundlich. Allzu viel folgern sollte man daraus nicht, denn das gemeinsame Army-Outfit würde wohl in jedem Fall die Aufmerksamkeit des Betrachters erregen, und die Erfahrung zeigt, dass sich hinter Blicken unterschiedlichste Gedanken verbergen können. Der Gerechtigkeit halber notiere ich nur noch, dass sich die längsten Blicke nicht auf mich richteten.

Der Ausflug beginnt mit einer kleinen Odyssee, denn am Bahnhof Gesundbrunnen steigen wir in den falschen Zug nach Stralsund, was eigentlich nach zwanzig Jahren Brandenburg-Erfahrung nicht passieren sollte. Wir fahren also nach Oranienburg und wieder zurück, nehmen anschließend den nächsten Zug nach Eberswalde und müssen dort, weil Wochenende ist, erneut eine Stunde auf den Anschlusszug Richtung Frankfurt/Oder warten. Als wir in Altranft aussteigen und unsere Wanderung beginnen, ist es bereits halb zwei, aber für unseren Plan ist das gerade noch früh genug.

Ehemaliger Truppenübungsplatz (© Ismael)

Unser Weg führt zunächst durch das Naturschutzgebiet ›Hutelandschaft Altranft-Sonnenburg‹, einen früheren Truppenübungsplatz. Westlich dieses Gebiets erreicht man das kleine Dorf Sonnenburg, an dessen Rand das gleichnamige Gutshaus (einst Landsitz des NS-Außenministers Joachim von Ribbentrop) weiterhin auf Sanierung wartet. Auf dem halb zugewachsenen Hof steht jetzt unter anderem ein Folientunnel, in dem jemand Salat und Gemüse anbaut. Das Ensemble hat wieder einmal den Eigentümer gewechselt, wie man im Internet erfahren kann; ein ziemlich bunt zusammengesetzter Förderverein versucht dem Haus und seinen Nebengebäuden Leben einzuhauchen. Man wagt keine Prognose, denn die Gebäude sind stark verfallen und die Selbstdarstellung des Vereins klingt so, als ob der Ideenreichtum die Realisierungsmittel deutlich überstiege.

Wir schauen uns das diesmal nicht so genau an und wandern stattdessen weiter zur Waldschenke am Baasee – auch dies für mich ein vertrauter Ort, an dem ich schon häufiger eingekehrt bin. Das Personal ist bekanntermaßen freundlich und für brandenburgische Verhältnisse geradezu jugendlich, außerdem ist das Essen ziemlich gut, wenn auch kompromisslos vom heimischen Wildschwein her konzipiert. Anders als bei meinen früheren Besuchen setzen wir uns nach drinnen in die rustikale, etwas düstere Gaststube, wo heute eine Akkordeonspielerin für volkstümliche Musik sorgt.

Eine provisorische Gaststätte gab es an diesem Platz übrigens schon ab 1864. Um 1890 errichtete ein Hotelier aus Bad Freienwalde einen erst einstöckigen, später zweistöckigen Fachwerkbau mit Anbau, der noch auf alten Postkarten zu sehen ist, wenn man im Internet die Bildersuche bemüht. Dieses Gebäude brannte 1945 ab, und 1972 wurde die heutige Blockhütte errichtet.

Über den See schreibt Fontane in den »Wanderungen«:

»Weiter in den Wald hinein, etwa eine halbe Meile im Rücken des Rosengartens, liegt der Baa-See, der Liebling und der Stolz der Freienwalder. Sie überschätzen ihn offenbar, vielleicht weil er das landschaftlich einzig in Betracht kommende Wasserstück ihrer schönen, aber etwas monotonen Landschaft ist, vielleicht auch weil er Versteckens spielt und nach Art vielumworbener Schönen sich dem Werber entzieht. […]
Was den Baa-See zu keiner tieferen Wirkung kommen läßt, ist wohl das, daß er jener Mischgattung von Seen angehört, die zu finster sind, um zu erheitern, und doch wieder zu heiter, um den vollen Eindruck des Schauerlichen zu machen.«

Kaffee in der Waldschenke am Baasee (© Ismael)

Der Wirt fragt mich beim Bestellen am Selbstbedienungstresen, ob wir vorhaben, im Wald zu schlafen; vielleicht legt unser Erscheinungsbild so etwas tatsächlich nahe. Das Gebiet sei ja (so seine Worte) prädestiniert dafür; er selbst mache das auch öfter, sogar mit seiner Frau. Die Frage ist gewissermaßen an der richtigen Adresse, aber für heute muss ich ihn enttäuschen; es ist eben nur eine Tagestour.

Ismael und ich teilen uns ein Brot mit Wildschweinschinken und Spiegelei. Die Getränke bekommt man sofort, aber auf das Essen muss man eine ganze Weile warten; das sollte man wissen, wenn man hier einkehrt und nachher eine bestimmte Zugverbindung im Auge hat.

Immerhin schaffen wir es, um kurz nach vier vom Baasee aufzubrechen, und laufen dann auf direktem Wege auf dem Siebenhügelweg nach Bad Freienwalde. Der Weg führt sozusagen über den Kamm östlich des Brunnentals, hier erreicht man auch mit 136 m den höchsten Punkt der Route, während die Bahnhöfe Altranft und Bad Freienwalde im Odertal, also fast auf Meeresniveau liegen. Den kleinen, aber landschaftlich ansprechenden Umweg über den Aussichtsturm bei Bad Freienwalde sparen wir uns, weil Ismael Fußschmerzen hat. In der Stadt (die mit etwas klassizistischer und historistischer Architektur an ihre Kurort-Tradition erinnert) ist dann noch Zeit genug für eine Umkreisung der Nicolaikirche, bevor wir uns zum Bahnhof begeben.

Inzwischen gibt es am Marktplatz gar keine Gastronomie mehr, nur einen Imbiss auf dem Weg zum Bahnhof. Wir besorgen uns Pommes für die Rückfahrt, denn die mitgebrachten Brote und das Essen am Baasee haben irgendwie nur knapp für zwei Personen gereicht. Der Imbissbetreiber (mit Migrationshintergrund) erklärt mir, dass sein Geschäft deshalb funktioniert, weil es Parkmöglichkeiten vor dem Haus und eine Bushaltestelle in der Nähe gibt; dann nehmen sich die Leute auf dem Heimweg nach der Arbeit etwas zu essen mit. Das ist sozusagen das Kriterium; die zentrale, touristische Lage am Marktplatz hätte hier keine Vorteile.

Hallenwald im Frühjahr

Übrigens haben wir unterwegs auf unseren Wanderwegen niemanden angetroffen, trotz frühlingshaften Wetters, trotz Wochenendes und obwohl Bad Freienwalde einen ziemlich aktiven Wanderverein hat, der die Wege in der Region betreut. Ein paar Spaziergänger sind wahrscheinlich am Baasee auf dem Oderlandweg unterwegs gewesen, aber die meisten Gäste des Restaurants kommen augenscheinlich mit dem Auto oder Motorrad.

Der Oderlandweg ist ein zertifizierter Rundwanderweg von 65 km Länge, einer der wenigen ›Qualitätswege‹ in Brandenburg. Auch der Baasee-Wirt hat ihn im Gespräch erwähnt, aber ich habe ihm gesagt: »Nein, ich habe eine Karte und benutze sie« – wahrscheinlich demnächst eine Standardauskunft, da man immer öfter beim Wandern gefragt wird, ob man auf diesem oder jenem Prädikatsweg unterwegs sei.

2 Gedanken zu „Tageswanderung zum Baasee

  1. „Deshalb habe ich diesmal meinem Mitbewohner Ismael meine österreichischen Feldstiefel als Wanderschuhe angedient und mit ihm in Brandenburg eine Tagestour unternommen.“

    Ich frage mich, warum jemanden für 13 km Laufen in fremde Militärstiefel gezwungen wird, in denen er noch nie gelaufen ist und die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu extremen Fußschmerzen führen werden.
    Eine alte Tante mit noch gesundem Volksempfinden aus großer Zeit war bei uns Kindern auch der Meinung, dass eine Arbeit in Haus und Garten nur dann wirklich etwas wert sei, wenn sie schwer und mit Leiden verbunden ist. Kinder, denen die Gartenarbeit nicht wenigstens Blasen an den Händen verursacht hatte und die gar noch Spaß an der Sache hatten, konnten dem Ernst des Lebens nicht wirklich gewachsen sein.
    So ähnlich scheint es bei bestimmten Wanderideologen zu sein. Leiden ist Pflicht, Genuss ist verdächtig, bei Spaß hat man die Sache komplett missverstanden.
    Mit Turnschuhen (Trailrunner) wäre die Tour garantiert völlig entspannt gewesen. Natürlich hätte man dann nicht den coolen, martialischen Look durch Brandenburg tragen können, sondern hätte wie alle anderen (unerträglicher Gedanke) ausgesehen und auf die „hinter den Blicken der Eingeborenen verborgenen Gedanken“ verzichten müssen.

    1. Es stimmt, dass die Glorifizierung des Leidens bei einer solchen Tätigkeit wie dem Wandern öfters einen ideologischen Zug hat. Heute ist dann meistens nicht von ›Abhärtung‹ die Rede, sondern davon, dass man durch das ›Verlassen der Komfortzone‹ irgendwie seine Persönlichkeit optimiert. Das ist die neoliberale Variante der Selbststeigerung durch Leiden.

      Auf dieser Website ist zumeist von solchen Dingen wie ›Exploration‹ und ›Dialog mit einer Landschaft‹ die Rede; insofern steht die Persönlichkeitsentwicklung des Wanderers nicht im Mittelpunkt und Selbstheroisierung wäre allenfalls eine ironische Option. Pragmatisch betrachtet erweitert sich zwar die Komfortzone normalerweise mit wachsender Erfahrung, aber man muss das nicht als einen Zweck des Wanderns betrachten; es ist einfach ein Nebeneffekt.

      Der ›coole, martialische Look‹ ist dann wieder ein ganz anderes Fass und eigentlich nicht Ihr Bier. Mein Mitbewohner trägt übrigens grundsätzlich nur Kleidungsstücke, die er selbst tragen möchte. Trailrunners standen nicht zur Auswahl. So was besitzen wir gar nicht.

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