Deutschland diagonal: Spessart und Rhön (I)

»Ich hatte einen Theil des Waldes, den man Spessart nennt, zu durchwandern. Dieser Wald war eine nicht blos durch Räuberbanden, sondern auch durch eine Menge reißender wilder Thiere berüchtigte Wildniß. Gleich nachdem ich diesen Wald betreten, gerieth ich in Verwirrung über die Menge der sich verzweigenden Wege und gewahrte bald, daß ich, je weiter ich voranschritt, desto mehr vom rechten Wege abirrte.«

So schreibt der Mathematiker und Universalgelehrte Anastasius Kircher in seinen Lebenserinnerungen aus dem 17. Jahrhundert. Kircher rettet sich dann für die Nacht auf einen Baum, und am nächsten Tag irrt er noch einmal neun Stunden umher, bevor ihm die Bauern, die er auf einer Waldwiese beim Mähen trifft, den rechten Weg weisen.

Dass man über die Menge der sich verzweigenden Wege in Verwirrung geraten könnte, stimmt heute noch. Nur trifft man wahrscheinlich keine Bauern mehr auf der Waldwiese, und wenn doch, so ist es sehr fraglich, ob sie einem den rechten Weg weisen. Denn wie so oft beim Wandern habe ich auch diesmal wieder die Erfahrung gemacht, dass Einheimische eigentlich die Wege, die sie selbst im Alltag nutzen oder vielleicht auch nur vor zehn Jahren genutzt haben, nicht unmissverständlich erklären können. Das implizite Wissen, das in der eigenen Landschaftskenntnis enthalten ist, lässt sich einem Fremden eben nicht ohne Weiteres mitteilen. Auch Entfernungsangaben misslingen oft.

Das war hier nicht schlimm, denn ich bin mit funktionierenden topographischen Karten unterwegs gewesen und habe mich kaum verlaufen. Das Gespräch mit Einheimischen über die Route diente eher dazu, vielleicht etwas über die Wegebeschaffenheit und die erreichbaren Übernachtungsmöglichkeiten in Erfahrung zu bringen. Oder es diente einfach dazu, über Gott und die Welt und den Wald mit jemandem zu sprechen. Dabei erfährt man meistens etwas mehr, als man erwartet hat. »Ich kenne da praktisch jeden Weg, denn ich habe früher hier als Ausbilder die Einzelkämpferausbildung gemacht. Das war – wann war das? – 1965. Und auf dem Weg hier«, er zeigt ihn mir auf der Karte, »sind wir immer nach Rieneck und haben da die Brücke gesprengt, theoretisch.«

Die ganze Wanderung von etwa 200 km gehört zu meiner Deutschland-diagonal-Route. Der diesmal begangene Abschnitt beginnt in Miltenberg an der Nahtstelle zwischen Odenwald und Spessart und endet in Breitungen an der Werra. Zunächst war also der Spessart zu durchqueren, dann die Rhön; beides Mittelgebirge, die ich von früher kaum kenne, sieht man von vereinzelten Tageswanderungen in der hessischen Rhön einmal ab.

Die Route ist wie üblich ›geographisch‹ geplant gewesen, das heißt ich habe mich zunächst hauptsächlich am Relief und an der groben nordöstlichen Wanderrichtung orientiert und erst in zweiter Linie andere Planungskriterien hinzugezogen: vorhandene markierte Wanderwege in beiden Gebirgen, Truppenübungsplätze, die zu umgehen waren, Ortschaften, die entweder zu meiden oder zu bestimmten Zwecken aufzusuchen waren, ferner Schutzhütten als Übernachtungsmöglichkeiten. Dem Eselsweg im Spessart bin ich an den ersten beiden Tagen gefolgt, um ihn dann Richtung Partenstein und Burgsinn zu verlassen. In der Rhön bin ich zeitweise auf dem Hochrhöner (einem Premiumweg) unterwegs gewesen, aber eben nur zeitweise. In der Vorderrhön bin ich ansonsten häufig lokalen Wanderwegen gefolgt, ebenso im nordöstlichen Spessart.

Der April ist eigentlich eine angenehme Jahreszeit für ein solches Projekt: Es gibt noch keine Mücken, die Gewittergefahr ist vernachlässigbar (denkt man zumindest), die Tagestemperaturen sind beim Wandern meistens angenehm, die Nächte sind noch lang genug zum Schlafen und die Tage lang genug zum Wandern. Die Natur ist mitunter schon frühlingshaft aufgeblüht, in den höheren Lagen erlebt man aber, soweit man in Laubwäldern unterwegs ist, häufig noch das blau und hellbraun getönte grelle Silberlicht des Vorfrühlings; nie ist es im Wald so hell wie zu dieser Zeit, nie reicht der Blick so weit – kurz bevor das giftgrüne Laub austreibt und alles zunichtemacht.

Diesmal war das Wetter allerdings sehr gemischt: brennende Sonne an mehreren Tagen, sodann teilweise schwüle Luft mit zwei abendlichen Gewittern in zehn Tagen, ferner ein Tag mit kräftigem Dauerregen, der meine Regenausrüstung überfordert hat.

Logistisch stellte sich einmal mehr das Problem, wie man in einer noch unbekannten und von zahlreichen großen und kleinen Schutzgebieten durchsetzten Landschaft einen angenehmen Schlafplatz findet. Das hat mehr Zeit und Nerven gekostet als erwartet – es war ein tägliches Thema, auch wenn man sich über mangelnde Unterstützung durch Einheimische eigentlich nicht beklagen konnte. Statistisch betrachtet habe ich fünfmal im Zelt, zweimal in einer offenen Schutzhütte und je einmal in einem Hotelzimmer, in einem Carport und ungeschützt an einem Rastplatz übernachtet. Von den fünf Zeltnächten waren zwei auf privaten Grundstücken in Absprache mit den Eigentümer/innen, zwei weitere in der Nachbarschaft offener oder geschlossener Schutzhütten.

Die Ausrüstung war anfangs zu schwer, unter anderem wegen eines Experiments mit zwei kombinierbaren Schlafsäcken. Es hat sich in den ersten Tagen herausgestellt, dass es für mich beim Tragen meines ansonsten bewährten Rucksacks eine relativ präzise Komfortgrenze im Bereich von 11 kg gibt. Oberhalb davon tritt das Tragegewicht unterwegs als ständige Belästigung in Erscheinung, unterhalb davon macht es sich normalerweise nicht als Thema bemerkbar. Ich habe deshalb von Burgsinn aus diverse Ausrüstungsteile (Hoody, GPS-Gerät, ›erledigte‹ Wanderkarten) nach Hause geschickt. Gefehlt hat später nichts.

Tag 1 (7. April 2018): Miltenberg – Sohlhöhe (9,6 km)

Die erste Tagesetappe ist kurz, da ich erst am frühen Nachmittag in Miltenberg eintreffe und abends um halb sieben eine sehr annehmbare Schutzhütte am Eselsweg finde. Dazwischen liegt der Aufstieg vom Bahnhof durch den sonnendurchfluteten Wald, mit einem Abstecher zum Kloster Engelberg, wo ich noch einmal Kuchen esse und meine Wasserflaschen fülle. Miltenberg liegt sehr tief (130 m), das Kloster etwa auf 250 m, der Eselsweg steigt dann auf etwas über 400 m an, so dass man auf den ersten Kilometern annähernd 300 Höhenmeter zu bewältigen hat. Das bleibt auch im weiteren Verlauf die typische Größenordnung für die Höhendifferenz zwischen Tal- und Kammlagen. Der Eselsweg hat im Übrigen die Angewohnheit, als Kammweg wirklich jeden Berg mitzunehmen; teils als Forststraße, teils als ziemlich unebener Waldweg.

Bis zum Kloster treffe ich noch einige Spazierwanderer und Mountainbiker, habe auch noch ein paar kurze Gespräche, die sich teils minimalistisch zusammenfassen lassen: »Survival?« »Nee, längere Wanderung.«

Beim Aufstieg vom Kloster zum Kamm und auf den weiteren Kilometern bis zur Sohlhöhe begegnet mir dann kaum noch jemand. Die Schutzhütte liegt in Sattel- oder Passlage, umgeben von einer weitläufigen Wiese mit einzelnen großen Laubbäumen, einem etwas sumpfigen Teich und mehreren Sitzgruppen; also fast eine parkähnliche Situation. Und der Wald erscheint sehr farbig in der Abendsonne. Hier verbringe ich nun einen ruhigen ersten Abend; noch ohne zu wissen, dass beides im weiteren Verlauf selten sein wird: die Einkehrmöglichkeit unterwegs wie auch das einfache Auffinden eines sozusagen anheimelnden Übernachtungsplatzes.

Kloster Engelberg
erste Schutzhütte auf dem Eselsweg
Aussichtspunkt auf dem Hunnenstein
Sohlhöhe
Schutzhütte
Innenansicht
Umgebung

Tagesroute vom 7. April:

 

Tag 2 (8. April 2018): Sohlhöhe – Haseltal/Autobahn (28,7 km)

Am Morgen stehe ich um acht Uhr vor der Hütte und schaue in den Wald. Kein Wind, eigentlich. Dreißig Meter entfernt bricht ohne besonderen Anlass ein mittelgroßer Ast von einer Kiefer ab und kracht auf den Waldboden.

Aha, denke ich, ist ja interessant. Könnte jetzt ein Zelt druntergestanden haben. Waldtypische Gefahren. Abstrakte Risiken, heute mal konkret.

Die Tagesetappe wird sehr lang, davon weiß ich morgens noch nichts, es gibt aber ein paar Gründe: Am 11. April bin ich in Burgsinn verabredet, das muss ich eigentlich bequem schaffen; aber nachdem ich gestern schon weniger weit gelaufen bin als geplant, könnte man heute mal etwas Vorsprung bekommen, indem man heute noch die Autobahn (A3) überquert und erst nördlich davon nächtigt. Ich habe mich beim Kauf der Wanderkarten (ATK 25) ein bisschen eingeschränkt, deshalb kann ich zwar bis zur Autobahn auf dem Eselsweg laufen, muss dann aber für ein paar Kilometer einen bestimmten Korridor einhalten, weil die beiden Kartenblätter (E02 Stadtprozelten und D03 Lohr am Main) sich nur an einer Ecke überschneiden.

Das Wetter ist sehr sonnig an diesem Tag, und die mittlere Monotonie des Eselswegs bringt es mit sich, dass ich mehr oder weniger im Flow laufe. Zwischendurch ein paar Pausen, hier und da fotografiere ich Schutzhütten, filtere Wasser aus einem stehenden Gewässer und dergleichen. Das immer etwas zu hohe Gewicht des Rucksacks irritiert ein bisschen.

Abends suche ich in der Nähe der Autobahn nach einer Schutzhütte und entschließe mich, ins Haseltal abzusteigen, wo unweit der Talbrücke eine Hütte eingezeichnet ist. Leider ist sie in Wirklichkeit privat, weshalb ich mich zunächst einfach mit Isomatte und Schlafsack wenig abseits in den Wald lege. Nach einer halben Stunde wechsle ich noch einmal den Platz, da ich finde, dass mir das umherwandernde Wild etwas zu nahe kommt. Man hört das Pusten in der Nähe; wahrscheinlich war es ein Reh. Ich packe meine Sachen im Licht der Stirnlampe zusammen und schlafe letztlich an einem kleinen (nicht überdachten) Rastplatz neben dem Wirtschaftsweg, sozusagen ganz öffentlich. Dort hatte ich zuvor schon eilig in der Dämmerung zu Abend gegessen, auch war während des Essens noch ein Auto vorübergefahren – die Leute grüßen übrigens freundlich; ein bisschen so, als hätte in der Zeitung gestanden, dass ich heute hier vorbeikomme.

Diese improvisierte Nacht ist kalt und sehr feucht (durch Tau); ich messe morgens 2,0 °C und 99 % Luftfeuchtigkeit. Zusätzlich zum Daunenschlafsack habe ich einen dünnen Kunstfaserschlafsack dabei, der jetzt als Außenhülle dient. Tatsächlich ist er morgens nass, und an den Nähten ist die Nässe auch bis zum Daunenschlafsack durchgedrungen.

Abends bei der Schlafplatzsuche habe ich erwartet, dass der Autobahnlärm (die Talbrücke liegt ja in Sichtweite) beim Schlafen sehr störend sein müsse, aber erstaunlicherweise ist das nicht der Fall. Es ist einfach irgendein Geräusch: wie ein böiger Wind beim Schlafen im Wald, oder wie ein glucksender Bach.

Eselsweg; links hinter dem Gebüsch liegt ein Quellteich, aus dem ich Wasser gefiltert habe
Grillhütte bei Mönchberg (legale Nutzung nur mit Anmeldung bei der Gemeinde)
zugehörige Feuerstelle
Innenansicht der Hütte (Betonboden)
Eselsweg am Kreuzsteintor
Autobahn A3
Schlafplatz am nächsten Morgen (Talbrücke rechts im Hintergrund)

 

Tagesroute vom 8. April:

 

Tag 3 (9. April 2018): Haseltal – Stockbrunnen (Bischborner Hof) (22,9 km)

Die Autobahn ist mein Freund. Dergleichen könnte man jedenfalls denken, wenn man meinen Track am gestrigen Abend und am heutigen Morgen betrachtet. Denn ich laufe jetzt zunächst wieder zur Talbrücke zurück und folge anschließend einer Forststraße, die sich nördlich der Autobahn am Hang hinaufwindet und sich einstweilen noch nicht von ihr löst. Auf diese Weise lege ich ungefähr vier Kilometer zurück, bevor ich mich wirklich von der Autobahn entferne: Richtung Torhaus Aurora (eine historische Zollstation), von dort weiter zum idyllisch gelegenen DAV-Haus Sylvan im Weihersgrund.
Der Wanderweg führt hier direkt über das Grundstück der Gaststätte, und da ich nun einmal hier bin, bekomme ich auch etwas zu trinken, obwohl eigentlich nicht offen ist. Mit den beiden Wirtsleuten unterhalte ich mich eine Weile. Hier begegnet mir auch zum ersten Mal die Prognose, dass mir die Rhön als das ›Land der offenen Fernen‹ vielleicht noch besser gefallen könnte als der Spessart. Das wird später noch gelegentlich von anderen Gesprächspartnern wiederholt. Aber wenn ich mich wirklich entscheiden müsste zwischen den offenen Fernen der Rhön und der Intimität eines solchen Wiesentals wie des Weihersgrundes – ich würde die Intimität wählen.

Anschließend geht es steil den Berg hinauf und jenseits des Sattels wieder hinunter ins Hafenlohrtal: einige Kilometer durch den sogenannten Fürstlich Löwensteinschen Park. Der Hangweg am Schlossberg, der mich nach Einsiedel führt, gehört zu den landschaftlich schönsten Wegstücken meiner Wanderung. Absteigender Pfad, zur linken Seite geht der Blick durch den lichten, unbelaubten Buchenwald über Teile des Hafenlohrtals hinweg auf den weitläufig gegliederten Gegenhang.

Einsiedel ist ein Weiler im Hafenlohrtal, nicht zu verwechseln mit dem Kloster Einsiedel, das ebenfalls im Spessart liegt. Es gibt eine Kapelle, ein Forstamt, ein Wildgehege. Und wenige Einwohner. Ein paar davon treffe ich, weil sie ihre Shetland-Ponys heute spazierenführen. Wir unterhalten uns, während ich auf der Forststraße oberhalb des Ortes Pause mache, um meine beiden feuchten Schlafsäcke in der Sonne zu trocknen.

Einsiedel liegt auf 220 m, so dass ich anschließend erneut etwa 300 Höhenmeter steige. Das Forsthaus Aurora (nicht zu verwechseln mit dem vorhin erwähnten Torhaus) ist eine Gaststätte, aber am heutigen Montag ist sie geschlossen. Das habe ich gewissermaßen schon vorweggenommen, als ich auf dem Weg dorthin ein bisschen Trinkwasser aus einer Klarwasserpfütze neben der Forststraße gewonnen habe. Ich mache also am Forsthaus nur eine kurze Sitzpause und laufe dann weiter über die Höhe Richtung Bischborner Hof. Unterwegs gibt es mehrere Schutzhütten: die am Neustädter Tor ist ziemlich heruntergekommen, die Kaulplatzhütte, für die ich einen Umweg mache, ist zwar schön gelegen, aber privat und verschlossen. Ohnehin ist es noch etwas zu früh zum Übernachten.

Der Bischborner Hof war früher eine Traditionsgaststätte, ist aber anscheinend schon seit einigen Jahren geschlossen. Immerhin wird aber der angrenzende Wanderparkplatz genutzt, und ich treffe hier unter anderem eine als Räuberbande verkleidete Gruppe. Eigentlich wollen sie mich überfallen und ausrauben, aber ich schlage ihnen vor, dass ich lieber sie ausraube und ihnen das letzte Trinkwasser wegnehme. Damit erklären sie sich einverstanden, denn sie sind gerade im Aufbruch; sie überlassen mir also eine Flasche Sprudelwasser. Jenseits der Straße laufe ich dann zum Stockbrunnen hinunter, einer echten Quelle, die etwas unterhalb zu einem Teich aufgestaut worden ist. Es gibt eine Sitzbank am Ufer, und da es schon Abend ist, koche ich hier meinen Reis und fülle meine Wasservorräte vollends auf.

Man könnte hier zur Not auch ein Zelt aufstellen. Das tue ich vorerst nicht, weil zweieinhalb Kilometer weiter eine Schutzhütte verzeichnet ist (allerdings nur in Open Cycle Map, nicht auf meiner topographischen Wanderkarte). Ich hatte mir einige Hütten aus dem Internet in die Karte übertragen, um vollständiger informiert zu sein. Das stellt sich an diesem Abend als Fehlschlag heraus, denn die Hütte ist eine verschlossene Forstarbeiterhütte, und rundherum ist in der Tat zuletzt viel gearbeitet worden. Ich überlege, ob ich hier im Freien schlafe oder gar neben der Hütte zelte, aber da ich nicht morgen früh von ungehaltenen Forstarbeitern geweckt werden möchte, laufe ich in der Dämmerung wieder zurück zu besagtem Quellteich und stelle dort mein Zelt direkt an der Forststraße auf. Der Weg zur Hütte und zurück schlägt mit fünf Zusatzkilometern zu Buche. Ich bin also heute 28 km gelaufen, habe nur einen sehr provisorischen Zeltplatz gefunden und bekomme zu allem Überfluss beim Ausziehen im Zelt einen Krampf in der Bauchmuskulatur, der mich dazu zwingt, eine Weile flach auf dem Rücken zu liegen. Richtig schön ist das alles nicht.

Das kleine Bachtal ist eigentlich idyllisch, abends sind noch einige Rehe unterwegs. Was man auf den Fotos nicht sieht, ist, dass durch den Wald am Gegenhang eine Straße verläuft, auf der am Abend noch einige Autos vorüberfahren. Das kann mich jetzt natürlich kaum stören, nachdem ich die vorige Nacht an der Autobahn verbracht habe.

Laubwald mit Talbrücke
Weihersgrund bei Sylvan
Zwischen Schnabelberg und Schlossberg (Löwensteinscher Park)
Hangweg am Schlossberg
Kapelle in Einsiedel (Hafenlohrtal)
Einsiedel
Marode Schutzhütte (Neustädter Tor)
Leanderhütte (an der Hirschhöhe)
Zeltplatz
Stauteich (Stockbrunnen nahe dem Bischborner Hof)
Blick vom Zelt (am gegenüberliegenden Hang verläuft eine Straße durch den Wald)

Tagesroute vom 9. April:

 

Tag 4 (10. April 2018): Stockbrunnen – Bayerische Schanz (19,0 km)

Der Plan für den heutigen Dienstag ist simpel: Nach Partenstein laufen (und zwar nicht durch den Reichengrund, sondern über den Höhenzug zwischen Reichengrund und Aubachtal); in Partenstein einkaufen und einkehren; dann zwischen Partenstein und Burgsinn in einer Schutzhütte übernachten. Wie schon gesagt, bin ich am morgigen Mittwoch in Burgsinn verabredet, und zwar zum Abendessen mit einem Mitarbeiter des Naturparks Spessart und einer ehrenamtlichen Naturführerin, auf deren Wiesengrundstück ich am Mittwochabend zelten werde.

Die Übernachtung am heutigen Dienstag steht allerdings ein bisschen in den Sternen, denn das gestrige Erlebnis zeigt ja zumindest, dass man sich auf die in Open Cycle Map verzeichneten Schutzhütten nicht verlassen kann. Ob ich also hinter Partenstein am Abend eine offene Hütte finden werde, ist unklar, und damit ist wieder einmal unklar, wie und wo ich überhaupt schlafen werde. Es gibt da auch noch die (von jenem Naturparkmitarbeiter empfohlene) Option, auf dem Gelände der Gaststätte Bayerische Schanz zu zelten; die Betreiber seien gewöhnlich sehr kooperativ. Aber ich habe mich da bisher jedenfalls nicht angemeldet, im Vertrauen darauf, dass mir stattdessen die passenden Schutzhütten zum passenden Zeitpunkt von selbst begegnen werden.

Mein Weg nach Partenstein führt zunächst wieder zu jener Forstarbeiterhütte (im Hirschruhhain), die ich gestern Abend angeschaut habe, dann geht es weiter auf unmarkierten Forststraßen und schließlich auf einem weichen Waldweg, der topographisch genau dem Bergrücken zwischen den beiden Tälern folgt und dementsprechend am Ende steil nach Partenstein abfällt, da das Aubachtal und der Reichengrund hier zusammenlaufen.

Übrigens muss man bei solchen Ortsbezeichnungen immer froh sein, wenn die aus der topographischen Karte abgelesenen Namen mit den lokal gebräuchlichen Bezeichnungen übereinstimmen. Manchmal geht das schief und die Einheimischen haben von Sturmkopf, Hirschgrund, Schneidberg und dergleichen noch nie etwas gehört. In der Universität lernt man bekanntlich, dass das, was wir Landschaft nennen, sowieso bloß eine soziale oder diskursive oder sonst was für eine Konstruktion ist. Beim Wandern hilft das zwar nicht (auch diskursive Konstruktionen können sich physisch in die Länge ziehen und öde Anstiege aufweisen), aber es erklärt immerhin das gelegentlich auftretende Gefühl, dass man mit jemandem über etwas Verschiedenes redet, während man mit ihm über dasselbe zu reden versucht.

In Partenstein drehe ich eine Runde durch den ganzen Ort, bevor ich mit einiger Nachhilfe die einzige geöffnete Gaststätte finde. Sie liegt am Bahnhof und ist alles in allem eine angenehme Lokalität. Ich esse ein Omelett als Gegengewicht zu meinem täglichen Reis und unterhalte mich mit dem Wirt, dem oben in der Einleitung schon mal zitierten Einzelkämpfer-Veteran und theoretischen Brückensprenger. Wir besprechen auch die Übernachtungsfrage. Oben auf der Höhe könne man eigentlich überall zelten, auch bei Gewitter, denn es sei ja alles bewaldet. Naturschutzfachlich und rechtlich könnte diese Auskunft Einwänden begegnen, aber sie ist eben technisch gemeint und gewissermaßen von einer postmilitärischen Landschaftswahrnehmung geprägt.

Zu guter Letzt lasse ich mir auch noch den Weg zum etwas versteckt liegenden Tegut erklären (das ist der gängige Supermarkt in dieser Gegend). Dort kaufe ich ein – nur so wenig, dass es bis morgen auf jeden Fall langt – und mache mich dann auf den Weg Richtung Bayerische Schanz, wobei zu diesem Zeitpunkt noch eine der jenseits der Gaststätte liegenden fiktiven Hütten mein eigentliches Ziel ist.

Das Wetter heute ist übrigens warm und zunehmend schwül. Von einem Gewitter am Abend ist orakelt worden, aber unterwegs mag ich nicht so recht daran glauben, da mein extrem präzise funktionierender Höhenmesser am Nachmittag keinen signifikant fallenden Luftdruck erkennen lässt.

Der Anstieg von Partenstein zum Gaulskopf und dann weiter über die Höhe zur Bayerischen Schanz beläuft sich wieder einmal auf 350 Höhenmeter, und als ich nach dem ersten Teil dieses Anstiegs meine Stiefel ausziehe, um die Fersen anzugucken, stelle ich fest, dass sich dort Blasen entwickelt haben. Das ist teilweise der Wärme zuzuschreiben, teilweise auch dem Umstand, dass ich diesmal ein textilgefüttertes Modell trage, das vielleicht eine halbe Nummer zu groß ist (wenn auch ansonsten sehr bequem). Diese Blasen werden mich jetzt bis zum Ende der Wanderung begleiten. Eine der beiden Fersen wird mit Blasenpflaster beklebt, die Sockenkombination wird etwas abgewandelt, ferner gewöhne ich mir an, im Aufstieg bewusst langsam zu gehen, um die Reibungskräfte zu reduzieren. Beim Abwärtslaufen und auf ebenen Strecken gibt es kaum Probleme, und insgesamt verschlechtert sich der Zustand in den nächsten Tagen nicht weiter. Im Moment bin ich aber erst einmal frustriert.

Als ich die Bayerische Schanz erreiche, gehe ich einfach hinein und frage, ob ich auf dem Gelände zelten darf. Die Gaststätte ist heute eigentlich nicht offen, es findet aber gerade eine Veranstaltung mit diversen regionalen Honoratioren und Verbandsvertretern statt. Dass meine morgige Gastgeberin ebenfalls teilnimmt, erfahre ich erst später, als sie schon weg ist. Ich kann jetzt hier quasi einkehren, bekomme etwas zu essen und zu trinken, unterhalte mich zwischendurch mit dem Chef. Auf der Wiese ist Platz für mein Zelt, aber später wird mir wegen des drohenden Gewitters nahegelegt, doch lieber im Carport zu schlafen, der hier eigentlich kein Autoabstellplatz ist, sondern ein überdachter Grillplatz. Dort schlafe ich also, und das Gewitter zieht in der Nähe vorüber. Es regnet eine Weile kräftig, und ich bin froh, hier zu sein und nicht irgendwo im Wald zu liegen.

Forststraße nebst Früchten der Arbeit
Zelt und Schlafsack trocknen auf Buchenholz

Bilder oben: Unterstände/Festplatz am Rande von Partenstein
Herbstliche Frühlingsfarben (auf dem Weg von Partenstein zur Bayerischen Schanz)
Schlafplatz (Bayerische Schanz)

Tagesroute vom 10. April:

 

Tag 5 (11. April 2018): Bayerische Schanz – Burgsinn (14,2 km)

Heute steht nur noch eine halbe Tagesetappe auf dem Programm. Ich hatte mir vorgenommen, möglichst am frühen Nachmittag in Burgsinn einzutreffen, und tatsächlich bin ich dann schon mittags um ein Uhr dort. Der Weg ist bequem: Man bleibt noch eine Weile auf der Höhe, bevor es dann irgendwann zunehmend steil bergab geht. Der Wald ist heute nass vom Regen, aber irgendwann kommt die Sonne durch.

Kunst im Wald (Bayerische Schanz)

Keine Kunst, sondern einfach nasses Holz
Und altes Laub

In Burgsinn treffe ich mich zunächst mit Frau B., der Naturführerin, und fahre später mit ihr im Auto zu jenem Grundstück, auf dem ich zelten werde. Es handelt sich um ein Wiesenareal von 7000 qm im Aura-Tal, zwei Kilometer von Burgsinn entfernt. Am einen Ende steht eine Holzhütte mit Bienenstöcken, dort schließe ich jetzt meine Sachen ein und fahre mit Frau B. wieder zurück in den Ort, unter anderem um ein Päckchen mit ›Ballast‹ zur Post zu bringen. Frau B. erzählt mir unterwegs von den Schachbrettblumen im Sinntal, die jetzt gerade zu blühen beginnen. Der Bestand im Sinntal ist isoliert vom sonstigen Verbreitungsgebiet, aber das hat keine natürlichen Ursachen, sondern liegt daran, dass diese Blume in historischer Zeit aus den Burggärten der hier ansässigen adeligen Blumenliebhaber ausgewildert worden ist; sie ist vorher aus der Türkei ins Sinntal verschleppt worden. Die Herren von Thüngen, denen die drei hiesigen Burgen gehörten, waren nämlich unter anderem auch reiselustig – neben allem, was sie sonst noch waren.

Nach meinen Erledigungen begebe ich mich in Burgsinn in ein Eiscafé, aber da ich draußen in der Sonne fast verglühe, hält es mich hier nicht lange. Ich laufe also die zwei Kilometer zu meinem Zeltplatz, begehe das Grundstück kreuz und quer auf der Suche nach dem angenehmsten Platz, baue schließlich mein Zelt ganz hinten am Waldrand auf.

Anschließend unterziehe mich der Mühe, mich im Freien mithilfe des Kompass-Spiegels nass zu rasieren. Das klappt nicht so richtig, weil unüberlegt angefangen. Auf früheren Touren habe ich mich immer an Pausentagen oder notfalls mal auf der Restaurant-Toilette rasiert. Draußen im Wind, bei trockenem Wetter an einer Böschung sitzend, wird die Nassrasur hingegen schnell zu einer trockenen Angelegenheit. Wenigstens müsste man ja mal auf die Idee kommen, den Kaffeebecher anstelle der Wasserflasche zum Abspülen des Rasierers zu benutzen … Ich brauche jedenfalls zwei Anläufe, bis ich einigermaßen zivilisiert aussehe. Für die meisten Dreißig- oder Vierzigjährigen unter meinen Lesern wird das jetzt ein irgendwie unverständliches Problem sein, weil ja der neue ›unkonventionelle‹ Mann, wenn er seine Rolle als ›Ernährer mit Ecken und Kanten‹ ernst nimmt, eh irgendeine ›individuelle‹ Art von Vollbart trägt – die jeweils angesagtesten Formen kann man sich in der jeweils aktuellen Versicherungswerbung angucken. Und bei einer Wandertour, ›jenseits der Komfortzone‹, kann man das dann erst recht sprießen lassen und wird dadurch immer männlicher, immer individueller und immer unkonventioneller.

Mit anderen Worten: Ja – nein – genau, die Igelstroemsche Nassrasur ist auch bei mehrtägigen Wanderungen unverzichtbar.

Nach der ganzen Prozedur fotografiere ich noch mein Zelt. Es bleibt jetzt hier für den Rest des Abends unbewacht stehen, aber der größte Teil der Ausrüstung wird im Bienenhaus eingeschlossen.

Six Moon Designs Skyscape Trekker (in den Auwiesen der Aura)

Am frühen Abend werde ich wie verabredet zum Essen abgeholt, fahre also mit Herrn K. (dem Geschäftsführer des Naturparks Spessart) und Frau B. nach Rieneck, wo wir im Gasthaus Löwen zu Abend essen. Natürlich geht es im Gespräch hauptsächlich ums Wandern ›und den ganzen Rest‹. Später sitzen wir dann noch im Auto und nehmen ein Interview für den Newsletter des Naturparks auf; dafür war es im Wirtshaus etwas zu laut.

Nicht dass ich wirklich etwas Spektakuläres zu verkünden hätte … Denn ich vertrete ja hier kein Lebensmodell und keine heroische Praxis, die sich dann womöglich als Beispiel für irgendeine Art von existenzieller Selbstoptimierung verwerten ließe. Es bleibt gewissermaßen bei der Erläuterung, wie man pragmatisch vorgeht, wenn man beim Wandern einer geographischen Planungslogik folgt und sich ansonsten im Detail möglichst viele Freiheiten offenhält. Dass dabei nicht einfach ›das Glück in der Natur‹ als Profit herauskommt, wird sich in den nächsten Tagen noch wiederholt zeigen.

Kleiner Exkurs zu überflüssiger Ausrüstung

Von Burgsinn aus habe ich ungefähr ein Kilo Ausrüstung mit der Post nach Hause geschickt. Neben den Spessart-Wanderkarten zählte dazu auch das Navigationsgerät. Es diente eigentlich dazu, die tatsächlich gelaufene Strecke nur aufzuzeichnen, um sich nachher die Rekonstruktion in einer Internet-Kartenanwendung zu ersparen. Das hat nicht wirklich funktioniert, denn so ein Gerät ist eben eine Art Tamagotchi, das ständige Aufmerksamkeit erfordert. Man könnte zum Beispiel versäumen, die Aufzeichnung morgens beim Loslaufen oder tagsüber nach einer längeren Pause wieder einzuschalten. Man könnte außerdem versäumen, die Batterien rechtzeitig zu wechseln. Dann bricht die Aufzeichnung unterwegs ohne irgendeine Vorwarnung ab. Und sowieso wird man feststellen, dass ein Wegpunkt alle 500 Meter oder alle 5 Minuten dazu führt, dass man später bei der Nachbearbeitung an jeder Wegbiegung eine Korrektur vornehmen muss. So gesehen ist der Vorteil, den die Aufzeichnung gegenüber der nachträglichen Rekonstruktion bietet, einfach zu gering. Ich habe also das Gerät nach Hause geschickt und die mitgeführten Ersatzbatterien verschenkt.

Und dann war da noch dieses verschwitzte Hoody, das ich sonst im Alltag viel trage und das sich unterwegs überraschend als entbehrlich erwiesen hat. Hier eine kleine Auflistung der mitgeführten Jacken und ihrer Funktionseigenschaften:

(1) Dünne Daunenjacke, sehr leicht, aber ausreichend warm bis in Gefrierpunktnähe. Da ich ja unterwegs mit Temperaturen zwischen +2 und +25 °C zu tun hatte, ist sie für das kalte Ende der Skala gerade richtig. Sie wird entweder abends und morgens am Lager oder auch mal morgens beim Loslaufen getragen.

(2) Minimalistische Decathlon-Regenjacke. Sollte eigentlich ausreichen, hat aber später trotzdem versagt.

(3) TacGear-Windshirt. Idealer Kompromiss in den meisten Alltagssituationen, weil wasser- und windabweisend und zugleich ziemlich luftig, so dass man kaum schwitzt. Als echte Regenjacke reicht es aber nicht aus.

(4) Bundeswehr Tropentarn-Feldbluse. Sozusagen die passende Jacke zur diesmal getragenen Hose. Die Tropentarnhose hat sich sehr bewährt, weil sie einerseits winddicht, andererseits bei Wärme und Anstrengung noch ziemlich angenehm ist. Auch die Jacke ist thermisch in einem relativ breiten Temperaturbereich angenehm, weil sie letztlich besser belüftet ist als manche zivile Funktionskleidung. Ich habe sie also bei kühleren Temperaturen über weite Strecken getragen (womöglich ein Drittel der Gesamtstrecke), solange man nicht im T-Shirt laufen konnte.

(5) Adidas-Hoody aus Polyester. Eigentlich angenehm in Alltagssituationen, wird aber beim Wandern schnell zu warm. Da ich nicht in kompletter Tropentarn-Uniform durch Ortschaften laufen und ggf. einkehren wollte, war dieses Teil sozusagen die zivile Austausch-Option.

Aus Sicht eines modernen Ultraleichtwanderers muss das eine Horrorliste sein. Rein funktional betrachtet kommt man mit den ersten drei Teilen aus, denn das Windshirt kann als Midlayer-Ersatz über dem T-Shirt getragen werden, etwa auch bei schweißtreibenden Aufstiegen in kaltem Wind, wo es sich als beste Lösung bewährt. Unterwegs sind die Fleck-tarnjacke und das Hoody also technisch überflüssig.

Nur hat sich eben im Laufe der Tour auch herausgestellt, dass das Tragen der kompletten Uniform (ohne Hoheitsabzeichen) in Wirklichkeit kaum Irritationen verursacht, sondern empirisch betrachtet eher gesprächsfördernd wirkt. Man kann das also ruhig machen, sofern man es cool findet und es einem nicht peinlich ist. (Oder: Ich konnte es machen, weil ich es cool fand und es mir nicht peinlich war. Steht mir halt.)

Und deshalb ist letztlich das Adidas-Hoody aussortiert worden.

 

Tagesroute vom 11. April:

[wird fortgesetzt]

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