Über das Wandern

I

Alles beginnt damit, dass man die Schuhe wechselt und einen Kick bekommt. So wie man früher, als alles Geistige noch spannend war, beim Aufschlagen eines neu gekauften Buches ein viszerales Spannungsgefühl hatte, so spürt man bei den ersten Schritten mit den Wanderschuhen ein Belebungsgefühl in den Beinen. Vielleicht – das gebe ich zu – muss man dafür Stiefelträger sein: Dann sind die Wanderstiefel nicht schwerer als die Alltagsstiefel, und das verbesserte Abrollen genügt, um einem das Gefühl zu geben, die Beine setzten sich von selbst und ohne Anstrengung in Bewegung. ›Es geht los.‹

Ein anderer Effekt des Schuhwechsels ist die Veränderung des Bodenkontakts. Solange ich mich erinnere, bin ich auch im Flachland in ›leichten Bergschuhen‹ gewandert. Auf einer harten Sohle also, die den Effekt hat, dass man Bodenerhebungen nicht mehr mit den Fußsohlen spürt, sondern gleichsam über sie hinwegwippt. Sie verschwinden nicht, werden aber an anderer Stelle – im Sprunggelenk und in den Wadenmuskeln – wahrgenommen, und der Körper antwortet darauf sogleich, indem er eine Kompetenz des Ausbalancierens entwickelt.

Das Dritte in dieser Art ist vielleicht der Kick, den man manchmal bekommt, wenn man nach einer Bahnfahrt aus dem Zug aussteigt und die Luftveränderung einem entgegenschlägt – ungefähr so wie der erotisierende Anblick eines unbekannten Menschen, dem man unverhofft begegnet. Das ist auch dann noch so, wenn man, wie ich, keinen Geruchssinn hat. Ich erinnere mich an eine herbstliche Tageswanderung im Schwarzwald: Einen Tag schwänzen bei einer wissenschaftlichen Tagung, mit dem Zug das Höllental hinauffahren. Beim Aussteigen in Aha am Schluchsee ist es kalt, sonnig, windig, und ganz unwillkürlich ringe ich erst einmal nach Luft: Der Körper fühlt sich überfallen und antwortet mit einem lautlosen Schrei nach innen; erst die Plötzlichkeit dieser somatischen Antwort informiert mich darüber, dass ich heute das Richtige getan habe.

Jedenfalls sind diese körperlichen Erfahrungen und leiblichen Resonanzen das Erste, was sich für mich mit dem Wandern verbindet. Noch bevor es eigentlich losgeht, fühlt sich etwas am Körper anders an, und das wird mich unterwegs begleiten.

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II

»Ein schöner Tag, so wahr ich Leben atme!« Dieser Satz aus Kleists Kriegsdrama Der Prinz von Homburg wird allerdings nicht im Schwarzwald gesprochen, sondern in Brandenburg.

Rausfahren also nach Brandenburg: Die meisten Wanderungen, die ich in den letzten zwanzig Jahren gemacht habe, sind Tagesausflüge gewesen. Man steigt irgendwo in die S-Bahn oder in einen Regionalzug, sucht sich einen Platz mit gutem Ausblick und fährt eine halbe oder ganze Stunde. Der Abstand ist bedeutungsvoll. Während man hinaussieht (oder die Wanderkarte studiert, damit jeder sieht, was man vorhat), verdunstet draußen allmählich die Stadt und macht einer idyllischen Kulturlandschaft Platz, der jede Großartigkeit fehlt: achtlos hingeblätterte Wälder und Seen in größerer Zahl, hier und da etwas historischer Backstein oder DDR-Beton, viel Fläche, blühendes Unkraut am Bahndamm und so weiter.

Und während man also da hinausfährt, stellt sich ein Glücksgefühl, eine Vorentspannung ein: nur deshalb, weil man diese kleine Schwelle überwunden hat, die darin besteht, den Tag frei zu halten, früher als sonst aufzustehen und sich von seinen gewöhnlichen Pflichten freizustellen. Dieser ›Dispens‹ ist es, auf den es ankommt. Die Herausforderung hingegen ist gering; es gibt nichts zu meistern, außer dass man den Weg finden und anschließend einen Kaffee beschaffen muss. Man ist nur ›ganz draußen‹. Auch die Zeitwahrnehmung verändert sich. Wenn man im Winterhalbjahr am späten Nachmittag, schon bei Dunkelheit, am Bahnhof Chorin auf den Zug nach Berlin wartet, ist alles so still, dass man als Stadtbewohner das Gefühl hat, es müsse schon später Abend sein. Der Zug bringt einen dann zurück in den kochenden Berufsverkehr der Hauptstadt. Es ist, als ob man aus einem Urlaub zurückkäme, aber man war nur einige Stunden fort.

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III

Urlaub, Erholung, Entspannung sind Wörter, die ich nur unter Vorbehalt verwende. Sie stehen im Verdacht, eine Technik zu beschreiben, die der Reproduktion der Arbeitskraft dient. Man ›tankt Kraft‹, weil man eben eine Maschine ist, und man ›lässt die Seele baumeln‹, weil man vorher Körper, Geist und Seele auseinandergerissen hat, so dass man die verschlissene Seele nun wie einen Schlafsack zum Trocknen aufhängen oder auch an einem Galgen baumeln lassen kann – oder was sonst diese Metapher bedeuten mag.

Die Sprache, in der man üblicherweise über eine solche Tätigkeit wie das Wandern redet, ist jedenfalls zu jeder Zeit aufschlussreich. Sie spiegelt die Funktionen wider, die dem Wandern gesellschaftlich zugewiesen werden. Das ODS-Forum liefert in dieser Hinsicht viel Material, und das Gleiche ließe sich auch über einschlägige Texte von Tourismusverbänden und Wanderinstituten sagen. Oft sind sie auf Zielgruppen einer Vermarktungsstrategie zugeschnitten. Sie enthalten sozusagen Unterstellungen, wer ich bin und warum ich wandere. Sie versuchen, mich dort abzuholen, wo ich angeblich stehe. Zugleich soll der durch den Text erreichte Personenkreis so groß wie möglich sein. Das ist der Grund dafür, dass die Sprache dieser Texte so unglaublich konventionell und abgenutzt wirkt.

»Einfach mal die Seele baumeln lassen und sich der Sehnsucht nach Ruhe und natürlicher Stille hingeben. Vergessen Sie den sonst so hektischen Alltag und erkunden Sie die besondere Schönheit des südlichen Siegerlandes auf dem Weg der Sinne.«

»Atemberaubende Ausblicke, wunderschöne Sonnenuntergänge, kühle Wälder und saftige Wiesen. Dazu jede Menge geologische Highlights und besondere Tier- und Pflanzenarten: Eine Wanderung auf dem rund 140 km langen Siegerlandhöhenring ist ein Muss.«

(Beide Zitate: www.burbach-erleben.de/aktiv/wandern)

Das Verdächtige an der Rede von Erholung und Entspannung, habe ich oben gesagt, ist ihre Abhängigkeit von der modernen Arbeitswelt. Die Idee ist allgegenwärtig: ›Kleine Auszeiten, Techniken der Entspannung, vorübergehende Abschaltungen des Alltags werden dich in die Lage versetzen, die Herausforderungen deiner Arbeit morgen umso besser zu meistern. Du wirst die Kraft haben, immer mehr zu leisten, und das ist doch eigentlich der Inbegriff des Lebensglücks.‹

Wenn zudem das, was man als das Andere der Arbeit betreibt, nicht nur als Erholung in Erscheinung tritt, sondern zugleich als sportliche und mentale Herausforderung, eröffnet sich damit ein zweiter Weg zum selben Ziel. Dass man den Appalachian Trail ›angeht‹ und ›meistert‹, beweist nämlich, dass man auch jede andere, zum Beispiel berufliche Herausforderung bewältigen kann: So oder so ähnlich wird es in der Fernsehdokumentation zum AT (»Durch die Wildnis Amerikas«) gelegentlich ausgesprochen.

Führt man sich diese beiden standardisierten Redeweisen vor Augen – das Wandern als Erholung und das Wandern als paradigmatische Herausforderung –, so kann der Eindruck entstehen, dass in der ›neoliberalen‹ Arbeitsgesellschaft eben alle Wege nach Rom führen; und ›Rom‹ ist hier einfach das willige Arbeiten nach Maßgabe eines Anderen, ausgeführt in der Form von immer neuen ›Projekten‹, die man eben ›angeht‹ und ›meistert‹, nachdem man sie notgedrungen zu seinen eigenen erklärt hat.

Zwischen der Art, wie eine Gesellschaft ihren wesentlichen Lebensinhalt organisiert, und der Art, wie in ihr gewandert wird, besteht eine weitgehende Analogie. Deshalb ist im Nationalsozialismus die Wanderung ein Geländemarsch und in unserer Gesellschaft das etappenweise Ablaufen eines vordefinierten Wanderwegs mit begleitenden Konsumangeboten.

 

IV

Bevor man nun mit dieser ideologiekritischen Beschreibung über das Ziel hinausschießt (was der Ideologiekritiker fast immer tut, weil er ja ein professioneller Besserwisser ist), sollte man vielleicht innehalten und sich vergegenwärtigen, dass natürlich das Wandern als Erholung ebenso gut eine Flucht sein könnte wie eine Vorbereitung. Also auch nicht ein Training für die Arbeit, sondern ihr intensivstes Gegenteil; das ganz Andere, das Abenteuer, das keinen Nutzen hat und als Selbstzweck eher dem Leben jenen Sinn zurückgibt, den die Arbeit in ihrer bloßen ökonomischen Zweckmäßigkeit nicht geben kann. Menschen sind ja als Wesen, die um ihre Endlichkeit wissen, darauf angewiesen, einigen ihrer Tätigkeiten den Status eines solchen Selbstzwecks zuzuweisen – zumindest dann, wenn ihnen der Sinn ihres irdischen Daseins nicht schon unter einem religiösen Horizont gegeben ist. Und einem in der Zivilisation eingesperrten Menschen könnte das obsessive In-der-Natur-Sein, könnte das sogenannte Einssein mit der Natur, könnte auch der Kampf und die Bewährung und das Hinausschieben der Grenzen des menschlichen Vermögens zu einem würdigen Selbstzweck werden. Auch dem künstlich inszenierten Abenteuer, das mit einem Langstreckenflug beginnt, kann dann ein Pathos absoluter Freiheit anhaften, das die anderen Eingesperrten vor Neid erblassen lässt.

Nur: Eingesperrt sind natürlich alle, und die es nicht sind, sind wirklich schutzlos und sehnen sich nicht nach Abenteuern. Das Einssein mit der Natur gibt es auch beim Wandern, solange man dabei nicht zu Tode kommt, nur als punktuelle, schimärische Erfahrung; es ist ansonsten, genauso wie die absolute Freiheit und die triumphale Überschreitung der eigenen Grenzen, eine idée reçue, also eine Idee, die aus der Vorstellungswelt unserer Umgebung in uns einsickert und sich, wenn sie als Redensart wieder hinaussickert, so anfühlt, als wäre sie der authentische Ausdruck unserer eigenen Erfahrung. Hinter diesem Schleier (der Ideologie, des Marketings, der üblichen Redensarten) muss man das, was wirklich beim Wandern die eigene Erfahrung gewesen ist, erst wieder suchen; ebenso wie die noch unrealisierten Möglichkeiten, die das Draußensein vielleicht auch noch bereithalten könnte.

Und das, was wirklich Erfahrung gewesen ist, ist für mich in erster Linie ein Konglomerat von unmittelbar leiblichen Empfindungen: Empfindungen einer bestimmten Art des Kontakts mit dem Boden, auf dem man geht, mit der Luft, die einen umgibt, mit der Landschaft als Bild, das man vor sich hat, mit der Landschaft als Topographie, die bestimmte Wege eröffnet und andere verschließt. Vielleicht sollte ich hinzufügen, dass meine Darstellung an dieser Stelle endgültig ihren Allgemeinheitsanspruch aufgibt und sich in eine Art phänomenologisches Bekenntnis verwandelt: in eine Beschreibung der Art, wie das Wandern in meinem Bewusstsein erscheint.

 

V

Wäre das Wandern ein Sport, hätte ich niemals damit angefangen. Als ich im Sommer 1986, noch als Schüler, in Graubünden zusammen mit meinem Bruder meine bis dahin dritte (und vorläufig letzte) Mehrtageswanderung unternommen habe, war mir wohl klar, dass wir das irgendwie schaffen würden, über diese Pässe zu wandern und die jeweils nächste Jugendherberge zu erreichen. Man hatte zwar trotz der Indoor-Übernachtungen viel zu tragen und war mit reichlich Baumwollklamotten ausgerüstet. Aber die Wanderschuhe waren einigermaßen eingelaufen, und an Blasen kann ich mich nicht erinnern. Für die gegebene, selbstverschuldete Herausforderung reichte die körperliche Kompetenz also aus. Das hat aber meine Selbstwahrnehmung als ›unsportlich‹ zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt. Denn was Sport war, wurde nicht in der Schweiz, sondern in der Schule definiert. Sport war ein Wettbewerb zwischen Ungleichen, den man im Vorhinein verloren hatte, und als meine Sportlehrerin in der Oberstufe zu mir gesagt hat, von mir werde auch nicht verlangt, dass es mir Spaß mache, habe ich das einfach als Anerkennung meiner Vergeistigung akzeptiert.

Wandern war für mich insofern ein wirkliches Draußensein, eine zugleich leibliche und geistige Tätigkeit, die einem niemand streitig machen konnte und bei der man sich mit niemandem zu messen hatte, weil sie niemanden interessierte. Man konnte dabei sogar etwas leisten, ohne dass es jemand evaluieren musste. Hätte es damals Wanderwettbewerbe gegeben, hätte ich daran nicht teilgenommen und vielleicht überhaupt vom Wandern Abstand genommen. (Das nur als Memo für diejenigen, die glauben, das Wandern als Breitensport durch die Ausrichtung von Wettbewerben fördern zu können. Ich bezweifle gar nicht, dass das in einer Gesellschaft, die das Kompetitive so sehr verehrt wie die unsere, möglich ist; es wäre nur bei mir erfolglos gewesen.)

 

VI

Die Essenz des Wanderns ist, dass es sich um eine Tätigkeit am Maßstab des eigenen Leibes handelt.

Das gilt zunächst buchstäblich: Das Maß der Fortbewegung ist der Schritt, der sich ohne besondere Anstrengung aus der Anatomie ergibt, und unter allen Möglichkeiten des Menschen, seine Position im Raum zu verändern, ist das Gehen diejenige, zu der er am offensichtlichsten disponiert ist. Die sich daraus ergebende Geschwindigkeit war ihm lange Zeit genug, und das sehr allmähliche Vorbeigleiten der ihn umgebenden physischen Welt beim Gehen muss ebenso lange für ihn das Maß gewesen sein, in dem sich eine Welt überhaupt verändern darf.

Inzwischen ist das anders geworden, und zwar nicht deshalb, weil sich der Mensch von seiner Natur entfernt hätte, sondern weil seine Natur ihn über sich selbst hinausgetrieben hat. Die Folge ist, dass für den Zivilisationsmenschen, soweit er nicht als Flüchtling unterwegs ist, das Gehen über weite Strecken nunmehr unvermeidlich einen ironischen Zug hat: Man wandert von A nach B, als ginge es darum, B zu erreichen – obwohl man B mit anderen Mitteln viel schneller und bequemer erreichen könnte. Man verstellt sich also; das ist die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs Ironie.

Unter Verzicht auf genauere historische Nachforschung könnte man behaupten, dass es diese Art des Wanderns in Deutschland seit der Romantik gibt: In dem Moment, da der letzte Bauer im Hochschwarzwald die Produkte seiner winterlichen Handwerkstätigkeit auf einen Wagen verlädt, statt sie seinen Söhnen anzuvertrauen, die sie bis dahin zu Fuß zu den Handelsplätzen gebracht haben, entdeckt der Städter seine Liebe zum Gehen und macht sich auf die Wanderschaft. Das Wandern wird zum Kulturtourismus und zu einer körperlichen Übung, nachdem es vorher eine beschwerliche und mitunter gefährliche, häufig aber alternativlose Art des Reisens gewesen ist. Ein gewisser Rousseauismus, eine nostalgische Rückkehr zur Natur und zur mittelalterlichen Lebenswelt, später auch eine pauschale Kritik der modernen Urbanisierung sind in Deutschland sicher historische Motive des Wanderns gewesen, die in den ›Diskursen‹, in den Redeweisen heute noch nachhallen.

Aber daneben persistiert jenes unmittelbare Motiv, das ich hier als mein eigenes kennzeichnen will: nämlich die physische Wirklichkeit im Maßstab der eigenen Körperlichkeit, die Ausdehnung der Landschaft und die wirkliche Entfernung im Maßstab der eigenen Schritte wahrzunehmen. Dass beim Reisen in einem modernen Verkehrsmittel die Landschaft ›vorbeifliegt‹, mag für viele Zwecke richtig sein. Das Wandern aber ist ein persönlicher Dialog mit dem Raum und der räumlich organisierten Welt. Es ist, als kehrte man zu jemandem zurück, um ihn zu fragen: »Jetzt noch einmal genau: Was wolltest Du mir erzählen?« Und die Landschaft ›antwortet‹ in der ihr zugestandenen Ausführlichkeit, nach dem Zeitmaß meines Gehens. Kein anderes Medium kann das ersetzen; das ist das Ernsthafte, das Unironische am Wandern.

In irgendeinem Forumsbeitrag habe ich von ›Aneignung‹ gesprochen, aber das ist ebenfalls eine täuschende Redensart. Man eignet sich einen Raum nicht an, indem man ihn durchläuft; genauso wenig, wie man sich einen Gesprächspartner aneignet, indem man mit ihm spricht. Man wird nur mit ihm vertraut. Und ebenso würde ich auch nicht sagen: »Ich möchte dieses Jahr mal den Westweg angehen.« Der Weg ist keine Aufgabe, die auf einer To-do-Liste steht und abgearbeitet werden kann. Wäre der Weg als Strecke zu einem Ziel eine ›Aufgabe‹, müsste man damit rechnen, dass der auf das Gehen antwortende Raum sich in eine bloße Kulisse verwandelt und als solche abfotografiert werden kann. Das ist tatsächlich etwas, was mitunter passiert, und zwar vor allem beim Wandern auf klassischen, gut markierten und zertifizierten Wanderwegen. Wie es ja auch mitunter passiert, dass man jemanden reden lässt, ohne wirklich aufzunehmen, was er sagt.

 

VII

Der Gedanke des ›dialogischen‹ Bezugs kann also verständlich machen, was beim Wandern wichtig wird, was hingegen nur eine pragmatische Bedeutung hat und was man eventuell vermeidet.

Meine Aufmerksamkeit beim Wandern ist meistens auf eine mittlere Wahrnehmungsebene ausgerichtet, also etwa auf die Ästhetik des Wegeverlaufs, auf die Wohnlichkeit eines Platzes, auf die Geländeformen und den Vegetationscharakter im Nahbereich. Weite Ausblicke sind interessant; sie erscheinen aber nicht als Belohnung für das Gehen oder für den Aufstieg. Und umgekehrt sind die Details am Wegesrand, einzelne Lebewesen oder Gegenstände, zwar manchmal Objekt der Wahrnehmung, mitunter sehe ich aber längere Zeit über sie hinweg, weil das räumliche Gesamtbild meine Aufmerksamkeit absorbiert.

Nicht selten füge ich in der Imagination ein einsames Haus in die Landschaft ein. Das wäre ein Sakrileg, wenn der Dialog mit dem Raum ein Dialog mit der ›unberührten Natur‹ wäre. Naturlandschaften und Kulturlandschaften unterscheiden sich aber unter meinem Blick nur graduell in der Art der Raumorganisation. Wege erleichtern das Gehen, so wie gängige Themen manchmal das Gespräch mit jemandem erleichtern, es mitunter aber auch langweiliger machen. Dass der Fahrweg mit dem Grasstreifen in der Mitte vielen anderen Wegen ähnelt, hat die Wirkung, dass in einer unbekannten Landschaft wenigstens irgendetwas schon vertraut ist; und indem ich diesen Weg nach einem Blick auf die Karte erleichtert als meinen Weg annehme, akzeptiere ich ein Angebot, das man mir macht; ich gehe buchstäblich auf etwas ein, obwohl es ein Element ritueller Wiederholung enthält.

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VIII

Ich war, wenn ich richtig zähle, viermal im Oberengadin, zum Wandern natürlich, und bin dort nie auf einen Berg gestiegen. Das Ausgesetztsein in der Höhe – aber etwa auch in einer baumlosen Schnee- oder Felslandschaft – beunruhigt mich, sobald die umgebenden
Raumstrukturen keinen Halt mehr geben. Die Passhöhe oder der Hangweg ist ein guter Ort. Aber der Berggipfel zeichnet sich eben dadurch aus, dass der organisierte Raum überstiegen wird und nur noch zu Füßen liegt. Unter einem kompetitiven Gesichtspunkt ist das sinnvoll: Der Berg wird ›bezwungen‹. In der Dialogik des Wanderns kann aber die Gipfelbesteigung so erscheinen, als demonstrierte man dem Gesprächspartner, dass man die Macht hat, ihn zumindest für einen Moment von oben herab zum Schweigen zu bringen. Und damit wäre eben nichts gewonnen. Deshalb ist die Wanderung auf den Gipfel eine Erkundung der Grenzen des Wanderns. Im günstigeren Fall scheint der zu Füßen liegende Raum doch noch zu ›antworten‹ – indem er sich nämlich aus einer unbekannten Perspektive zeigt, also eine Antwort gibt, die ich ihm anders als durch die Gipfelbesteigung gar nicht hätte entlocken können.

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IX

Das Gehen ist trivialerweise Voraussetzung des Dialogs mit dem Raum, aber ein Zwang zur Linearisierung, zur Festlegung einer Route mit Start- und Zielpunkten, zur Etappenplanung und zur Messung der gelaufenen Strecke ergibt sich daraus nicht. Man könnte auch umherschweifen. Und theoretisch könnte man dabei, solange das Areal eine begrenzte Ausdehnung hat, auf Navigationsmittel wie Karte und Kompass verzichten und so lange umherlaufen, bis man sich auskennt, bis man eine intime Vertrautheit mit dem räumlichen Gegenüber erworben hat. Normalerweise bleibt es aber bei der Strecke, bei der Linearisierung, genauso wie man eben mit den Menschen zwar eingehende Gespräche führt, aber mit den meisten von ihnen nicht zusammenwohnt.

Mit dem von mir gepflegten Kartenfetischismus hat es in diesem Zusammenhang eine besondere Bewandtnis. Es ist nämlich aus Erfahrung klar, dass die reale atmosphärische Wirkung eines Ortes oder einer Landschaft durch das Kartenbild niemals antizipiert werden kann. Trotzdem muss die Karte topographisch so genau wie möglich sein. Ich entscheide mich unterwegs oft kurzfristig für einen anderen Weg, aber ich hasse es, mich zu verlaufen, erst recht dann, wenn es die Karte ist, die mich in die Irre geführt hat. Bei dieser ›Überbewertung‹ der Karte geht es um ein Ausbalancieren der Dialogsituation, um ein Insistieren auf einer bestimmten Art von Souveränität. Das beim Gehen unmittelbar Gesehene, die ›Antwort‹ auf meine ›Frage‹, soll zwar neu für mich sein und mich überraschen, aber das bedeutet keine Auslieferung an den Raum. Vor allem bleibt mein Gehen ein eigenes Handeln in eine bestimmte Richtung, so wie mein Fragen meinen eigenen Anteil am Dialog bildet, den ich selbst bestimme. Deshalb die Karte, die mir einen Überblick über das Mögliche gibt und mich auch wissen lässt, wie ich hier wieder herauskomme, wenn ich das möchte.

Vielleicht liegt in diesem Nähe-Distanz-Verhältnis auch der Grund dafür, dass ich die Möglichkeit, in der Landschaft zu nächtigen, erst so spät und nicht zuletzt unter ökonomischem Zwang in Erwägung gezogen habe. Ursprünglich ist die Naturlandschaft für mich ein Gegenüber, dem man sich nur anvertraut, solange man es visuell noch ›unter Kontrolle‹ hat. Sich nach dem Wandern irgendwo niederzulegen und zu schlafen, bedeutet, den Dialog mit dem Satz ›Ich vertraue mich Dir an‹ einstweilen abzuschließen. Das ist offenbar nicht selbstverständlich, und deshalb legt man sich auch nicht irgendwo nieder, sondern ›sucht einen Schlafplatz‹.

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X

Dass Wandern kein Sport ist und folglich Körper und Ausrüstung nicht bis an ihre Grenzen strapaziert werden müssen, eröffnet Spielräume der Ästhetisierung.

In meinem besonderen Fall ist die Ästhetik eine militärische. Unter funktionalen Gesichtspunkten ist militärische Ausrüstung beim Wandern teilweise verwendbar, aber solange der funktionale Aspekt bei der Auswahl der Ausrüstung der einzige wäre, würde das ungefähr zu einem Erscheinungsbild führen, wie man es etwa in den Skandinavien-Reiseberichten des ODS-Forums zu sehen bekommt. Wenn man davon in einer speziellen und obsessiven Weise abweicht, hat man offenbar eine ästhetische Entscheidung getroffen, und der Verweis auf Ironie und Persiflage würde nicht ausreichen, diese Entscheidung zu erklären. Ironie im Sinne von ›Verstellung‹ ist natürlich insofern im Spiel, als es bei mir keine Identifikation mit dem Militär als Institution und keine nostalgische Sehnsucht nach Zugehörigkeit gibt. Die Rhetorik der elitär-kompetenten gemeinschaftlichen Missionserfüllung, die den Geist dieser Institutionen und insbesondere der Spezialeinheiten ausmacht (und häufig auf die Vermarktungsrhetorik militärischer Ausrüstung übergreift), weckt bei mir nur Misstrauen. Ich habe vielleicht einen Handlungsplan, aber keine mission. Niemand hat mich losgeschickt. Vielleicht macht es mir Spaß, mich irgendwo getarnt zu verbergen, aber offenkundig tue ich das nicht, um einen Auftrag zu erfüllen, sondern um in Ruhe zu schlafen und dann weiterzugehen.

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Was mir aber am Militärischen einleuchtet und mich in einem nicht nur ironischen Sinne fasziniert, ist das Phantasma einer gesteigerten Handlungsfähigkeit. Dieses Phantasma löst sich von der Institution ab, materialisiert sich in der Ausrüstung oder in der Uniform und geht auf deren Träger über: nicht als mystische Wirkung, sondern als unmittelbares Leibgefühl, als ein weiterer ›Kick‹. Eine solche phantasmatische Nachhilfe, eine solche Aufrüstung des leiblichen Selbstbildes ist vor allem dann nützlich, wenn man auf dieser Ebene wirklich etwas zu kompensieren hat: zum Beispiel eine habituelle Handlungszurückhaltung, eine zur zweiten Natur gewordene Verzagtheit sozusagen, die ja eine irrationale Unterschätzung der eigenen Kompetenz darstellt und einen davon abhalten könnte, sich nach der Abendessenszeit noch in den Wald hineinzutrauen.

Beim Wandern, im leiblichen Dialog mit dem Raum, ist daher die Ästhetisierung des eigenen Erscheinungsbildes, gleich in welcher Art und nach welchem Stil, auch nicht zwangsläufig ein Ausdruck urbaner Eitelkeit. Es ist sehr gut möglich, dass man unterwegs überhaupt niemandem begegnet. Dann wird man auch nicht gesehen.

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Aber für mich würde das nichts ändern. Denn das, was beim Wandern mit dem Raum in Kontakt tritt, ist der bewegte und gefühlte Leib. Der konstituiert sich nicht nur durch die
Innenwahrnehmung des Organismus, etwa als ein ausgeruhtes oder erschöpftes Werkzeug des Gehens, sondern zugleich als eine Gestalt mit einer von innen wahrnehmbaren künstlichen Oberfläche. Schuhwerk und Kleidung werden, während wir uns bewegen, von innen als Grenzen des leiblichen Selbst gefühlt. Sie sehen nicht nur aus (für jemand anderen), sondern fühlen sich an (für mich selbst), und darüber hinaus modifizieren sie die Art, wie das Außen auf den Körper einwirkt. Die Kleidung ist also nicht nur Träger von Funktionen, sondern wird zum Bestandteil des Eigenleibs, ohne dass uns das jederzeit bewusst wäre. Immerhin fühlen wir es aber im Gehen deutlicher als in Ruhe.

Und wenn man an der Beschreibung des Wanderns als eines ›Dialogs am Maßstab des Leibes‹ festhält, dann tritt sozusagen die Ästhetisierung der eigenen Gestalt als Ästhetisierung der ›Frage‹, als eine Modulation der Stimme, als eine bestimmte Tonlage in Erscheinung. Die Ästhetisierung verändert buchstäblich unser Auftreten, und wie in jedem anderen Dialog ist die Erwartung auch hier, dass die Modulation der ›Frage‹ zu einer Modulation der ›Antwort‹ führt, dass sich also der durchmessene Raum für mich ein wenig anders anfühlt, wenn ich mich selbst ein wenig anders anfühle.

Notwendig fürs Wandern ist das natürlich überhaupt nicht, und in dem Maße, in dem die Leistungsanforderungen an die Ausrüstung sich erhöhen (etwa bei Ultralight-Fernwanderern), wird die Ästhetisierung vielleicht zu einem Hindernis oder einer Last. Aber in dieser Zone bewege ich mich normalerweise nicht. Deshalb bleibt der Spielraum der Ästhetisierung erhalten.

 

XI

Es hat im Übrigen schon seine Gründe, dass ich in diesem Beitrag (der sich nunmehr seinem Ende zuneigt) zwar mehrmals vom ›Kick‹, aber nirgends von einem ›Flow‹ gesprochen habe.

Der ›Kick‹ ist für mich nur die äußerlich unauffällige leibliche Empfindung, die für mich persönlich zur Motivation des Wanderns gehört – ohne dass dafür etwas sehr Spektakuläres geschehen müsste, wie es etwa bei Extremsportarten der Fall ist. Der ›Flow‹ ist nach gängigen Definitionen ein Zustand des Aufgehens in einer Tätigkeit, der voraussetzt, dass man diese Tätigkeit zielorientiert ausführt und weder unter- noch überfordert ist. Das Wandern ist insoweit geeignet, einen Flow zu erzeugen. Und der Begriff des Flows ist auch geeignet, die Art von Konzentration auf das Gehen zu beschreiben, die sich beim Wandern mitunter einstellt. Trotzdem spielt dieses Phänomen in der klassischen Wanderliteratur seit der Romantik, soweit ich sehe, keine Rolle. Seume läuft als Thruhiker vierzig Kilometer am Tag mit UL-Ausrüstung, aber von einem Flow ist keine Rede. Er will einfach nach Syrakus: »Nach Italien zu gehen bin ich doch gesonnen, wäre es auch nur, um einige Oden des Horaz unter seinem Himmel zu lesen. Mir das Zwerchfell etwas auseinander zu wandeln dürfte auch nicht übel sein« (Brief an Gleim vom 6. November 1800). Neben dem Kulturtourismus ist also offenbar auch ein leibliches Motiv im Spiel, aber das führt im Reisebericht jedenfalls nicht zu einer grundsätzlichen Reflexion auf mentale Zustände, die sich aus körperlicher Aktivität ergeben. »Ich war willens, hier eine kleine Abhandlung über den Vorteil und die beste Methode des Fußwandelns zu geben, wozu ich vielleicht ein Recht so gut als irgendein anderer erworben habe; aber meine Seele ist jetzt zu voll von Dingen, die ihr billig wichtiger sind.« So schreibt es Seume in der Vorrede seines Russland-Reiseberichts Mein Sommer 1805.

Phänomene wie der Flow werden wichtig, wenn sich die Aufmerksamkeit vornehmlich auf das leiblich-mentale Selbst des Wanderers richtet. Das ist vor allem dann der Fall, wenn das Wandern erklärtermaßen Selbstzweck ist und diese Selbstzweckhaftigkeit erläutert oder sogar ›gerechtfertigt‹ werden soll. Gegen den Selbstzweck ist, um es genau zu sagen, nichts einzuwenden. Aber ein ›Dialog‹ ist eben eine Veranstaltung mit einem Gegenüber. Wenn man davon berichtet, kann man sich einmal mehr mit der einen, einmal mehr mit der anderen Seite befassen. Seume und Fontane (der ohnehin nicht immer zu Fuß gegangen ist) berichten davon, was sie gesehen haben und mit wem sie zusammengetroffen sind. Wenn Fontane einen Flow hatte, hat er das jedenfalls nicht für berichtenswert erachtet. Bei ihm liegt die Aufmerksamkeit ganz auf dem Gegenüber, also der Landschaft und ihren Bewohnern und den kulturhistorischen Valenzen. Das ist bei mir nicht immer so, aber wenn ich mich zwischen dem Thruhike US-amerikanischer Prägung und der kulturlandschaftlichen Arealforschung Fontanes zu entscheiden hätte, würde ich mich für Letzteres entscheiden.

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Denn auch wenn das Wandern eine leibliche Erfahrung ist, lenke ich meine Schritte auf etwas hin, das ich noch nicht kenne. Das Wandern als Dialog mit dem Raum ist in erster Linie eine Fremderfahrung, die eine Selbsterfahrung ›nur‹ mit sich bringt. So ist es für mich – nicht umgekehrt. Die Landschaft ist kein Mittel, um den Flow herbeizuführen (sonst könnte man vielleicht auch auf einem Laufband wandern), sondern der Flow ist etwas, das sich einstellt, weil die Landschaft eben ein ausgedehnter Raum ist. Auch aus diesem Vorrang der Fremderfahrung vor der Selbsterfahrung hätte man womöglich alles entwickeln können, was ich hier gesagt habe.

 

[Dieser Beitrag ist – mit anderen Illustrationen – gedruckt erschienen in: ODS-Magazin 5 (2014)]

Ein Gedanke zu „Über das Wandern

  1. schön, dass du mit dem aufschlagen von büchern anfängst. es mag mit der entwicklung der medienformen zusammenhängen, aber der vergleich zum losgehen beim wandern trifft es auch für mich. das eine ist eher vergangen, das andere geblieben und einfacher zu erhalten, insbesondere ohne immer mehr platz für immer mehr bücher.

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