Wie war das eigentlich ›früher‹? Wenn man als Jugendlicher mit seinen Eltern wandern gegangen ist, fuhr man vielleicht mit dem Auto zu einem Wanderparkplatz und ging einen Rundweg, der nach Maßgabe des Zeitbudgets auf der Wanderkarte grob geplant und dann eventuell abgekürzt oder verlängert wurde.
Das konkrete ›Medium‹, in dem sich bei dieser Art des Wanderns so etwas wie ein Handlungsplan konstituieren kann, ist typischerweise eine topografische Karte mit Wanderwegen, und die Realitätsebene, in der sich der Handlungsplan realisiert, ist eine Landschaft, die von einem Wegenetz überzogen ist – oder vielmehr ein Wegenetz, das gleichsam über die Landschaft geworfen worden ist. Ein ›Weg‹ ist in diesem Zusammenhang jede für den Fußgängerverkehr geeignete ›Bahn‹ – trassiert oder bloß ausgetreten, Pfad oder Forststraße.
Markierte Wanderwege treten bereits in der klassischen Wanderkarte als Suggestionen in Erscheinung: ›Dies ist der bessere, schönere, gepflegtere Weg, der von den meisten gegangen wird und der es ermöglicht, die Karte für eine Weile unbeachtet zu lassen und einer Markierung zu folgen.‹ Aber das war eben nur eine Suggestion, die man angemessen zu gewichten wusste, wenn man etwas Erfahrung hatte und in der Lage war, die Karte zu lesen. Man kann eine Abkürzung nehmen, man kann diesmal einen anderen Weg ausprobieren, man hat die Wahl. Die Karte bot also mit der Darstellung des Wegenetzes und der farbigen Darstellung markierter Wanderwege ein zweistufiges Instrumentarium, und es war immer klar, dass man in der Regel beide Stufen in Anspruch nimmt, wenn man eine Landschaft kennenlernen, sich eine Landschaft ›aneignen‹ will. Deshalb musste man auch unbedingt lernen, mit Karte und Kompass umzugehen.
Wenn man das Verhältnis des Akteurs zur Landschaft systematisch betrachten will, sollte man sich klarmachen, dass (einerseits) schon dieser Gebrauch einer topografischen Wanderkarte es mit sich bringt, dass sich das Instrumentarium gewissermaßen vor die Landschaft schiebt. Sie wird nicht mehr unmittelbar als natürliche Topografie wahrgenommen, sondern an deren Stelle tritt vorläufig ein Wegenetz, ›unter‹ dem die Landschaft (als eine Wirklichkeit, die überwiegend nicht ›Weg‹, sondern etwas anderes ist) dann erst beim Wandern wieder zutage tritt.
Dass das Wegenetz in der Karte als ganzes, das heißt als eine bestimmte Vielheit von Möglichkeiten dargestellt ist, bedeutet aber (andererseits), dass die Landschaft noch als ›Fläche‹ im Bewusstsein bleibt – als ein vielfältig gegliedertes, häufig unübersichtliches Areal, dem die eigene Route nur als Handlungsspur, als eine von vielen Möglichkeiten der Durchquerung einbeschrieben ist. Man geht einen bestimmten Weg, aber man weiß noch, dass die Landschaft mehr ist als das, was man vom Weg aus sehen kann. Die topografische Karte erfüllt die Funktion, einen daran zu erinnern.
Landschaft ist in dieser Art des Wanderns kein Film, der beim Gehen abläuft, und auch kein Bild, vor dem man betrachtend stehenbleibt wie vor einem Landschaftsgemälde im Museum, sondern ›Landschaft‹ ist der Name für einen beim Gehen zu erfahrenden Wirklichkeitsüberschuss. Dass der Horizont des unmittelbar Erlebten und Gesehenen sich beim Gehen fortwährend wandelt, ist ein Verweis darauf, dass hinter dem Horizont immer etwas anderes liegt, das genauso erfahren werden könnte, aber aktuell nicht erfahren werden kann, weil man jeweils nur ›hier‹ ist und nicht überall.
Die Erfahrung des Gehens in einer Landschaft ist also von einer seltsamen Ambivalenz, solange man die Landschaft als solche ernst nimmt. Man ist frei, jeden Standort einzunehmen, den man physisch erreichen kann, aber mit dieser Aneignung und Besetzung des Nahen wird alles andere, auch der zuvor und zuletzt besetzte Ort, wieder zu einer unverfügbaren Ferne: ein Ensemble von teils eroberten und zurückgelassenen, größtenteils aber ausgelassenen, umgangenen, gemiedenen und verpassten Orten. Diese Erfahrung eines ontologischen Überschusses enthält eine Anerkennung und zugleich ›Verhöhnung‹ der leiblichen Präsenz: »Du kannst fast überall sein, weil Du überall hingehen kannst – aber weil Du ein Leib bist und ich eine Landschaft bin, bist Du in Wirklichkeit fast nirgends, während ich überall bin.« Die Kluft zwischen dem eigenleiblichen Hiersein und dem Überallsein der Landschaft macht das In-der-Landschaft-Sein zu einer dezidierten Realitätserfahrung und zu einer Erfahrung der Selbsttranszendenz: In der ›Weite‹ der Landschaft zeigt sich die Welt als etwas, das im Einzelnen ›verfügbar‹ ist und doch im Ganzen unverfügbar bleibt.
Eine solche Erfahrung stellt sich aber in dieser Schärfe überhaupt nur ein, wenn man jederzeit frei genug ist, einen Weg oder einen anderen zu wählen, hierhin oder dorthin zu gehen. Wäre der Weg vorgezeichnet, würde der Überschuss gar nicht fühlbar werden oder sich nur noch als abstraktes Wissen zeigen: Der ›Rest‹ der Landschaft, den der Weg nicht berührt, wäre dann schon im Vorhinein als belanglos abgewertet. Das ist sozusagen die ontologische Hybris des Premiumwanderns.
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