Eine Phänomenologie des Wanderns hätte eine ganze Reihe von Kapiteln. Das erste würde vielleicht vom Gehen als leiblich-motorischer Aktivität handeln, das zweite davon, dass wir beim Gehen einem Raum ›einwohnen‹ (wie es bei Merleau-Ponty heißt), das dritte vielleicht von der ›Landschaft‹ als dem konkreten Raum, in dem gewandert wird.
Und irgendein weiteres Kapitel müsste vom Weg handeln, weil wir meistens auf Wegen wandern und weil wir typischerweise den Weg als ein signifikantes Phänomen aufnehmen: Er ist nicht einfach nur eine geometrische Struktur in dem Landschaftsbild, das wir vor uns sehen, sondern er erscheint von vornherein als etwas, das einen möglichen Bezug zu unserer Bewegung hat. Unsere Route setzt sich aus Wegstücken zusammen, aber diese sind für uns offenbar nicht alle gleich und jedenfalls auch nicht nur durch die messbare Länge unterschieden. Das Wegstück hat vielmehr jeweils einen Charakter, der sich beschreiben lässt, wenn man eine Sprache dafür findet.
Als eine solche Sprache könnte man die Terminologie der Gestaltpsychologie heranziehen, für die es ja wesentlich ist, dass das ›Ganze‹ einer erlebten und wahrgenommenen Gestalt etwas anderes ist als die Summe seiner Teile.
So auch hier: Der Weg tritt für uns als eine ›Figur‹ auf dem ›Grund‹ einer Landschaft in Erscheinung, etwa als gerade Schneise, die einen Wald oder eine Landschaftsformation durchschneidet, oder aber als ein geschwungenes Band, das sich an ein bewegtes Relief gleichsam anschmiegt, oder auch als sich eingrabende Rinne (und so weiter – die Formen stehen ja jedem Wanderer vor Augen). Das sind Qualitäten, die man beschreiben kann, aber man geht dabei sinnvollerweise von dem Ganzen der ›Figur‹ und ihrer Korrespondenz zum ›Grund‹ der Landschaft aus und nicht von bestimmten Sondermerkmalen, in die man dieses Ganze möglicherweise zerlegen könnte. Eine empirische ›Messung‹ von Einzelmerkmalen wäre wenig geeignet, die Gestaltqualität eines Weges angemessen zu erfassen, und trotzdem handelt es sich bei dieser Gesamtgestalt ja um etwas, das tatsächlich da ist, etwa in der gleichen Weise, wie die Körperhaltung eines Menschen tatsächlich da ist und einen beschreibbaren Ausdrucksgehalt hat.
In den Qualitätskriterien des deutschen Wanderinstituts kommen Gestaltqualitäten des Wanderweges zum Beispiel unter dem Titel ›Nahrelief‹ vor, aber damit wird eben nur versucht, dem figurativen Phänomen messbare Parameter abzugewinnen. Dieser prinzipiell mögliche Versuch dürfte, wenn man ihn systematisch betreibt, zu einer stets präzisierbaren, also quasi-unendlichen Reihe von Merkmalen führen, die dann auf eine andere konkrete Figur nicht mehr übertragbar ist, also keine vergleichende Wertung erlaubt.
Konkret kann das zum Beispiel heißen: Ein bestimmter Weg kann in einer bestimmten Umgebung gerade deshalb ›interessant‹ wirken, weil er geradlinig ist, während es in anderer Umgebung auf die Verschwenkung und auf das Sich-Schlängeln und Sich-Eingraben ankommen kann. Und umgekehrt kann etwa ein geradliniger Weg in unterschiedlicher Umgebung ganz unterschiedliche Gestalt annehmen, ohne dass diese Unterschiedlichkeit an einem gemeinsamen Kriterium gemessen werden könnte. Das Gestaltphänomen kann also zugleich ›evident‹ und inkommensurabel sein.
Die drei folgenden Bilder illustrieren das.
Der Reiz des zuerst abgebildeten Weges liegt sicher nicht in den landwirtschaftlichen Nutzflächen, die ihn begleiten, sondern darin, dass er als Allee eine Bodenwelle überquert und dabei eine Erwartungsspannung erzeugt, die sich tatsächlich auch erfüllt: Wenn man etwas weitergeht, öffnet sich ein weiter Ausblick mit einem Schloss und einem See im Mittelgrund.
Bei dem zweiten Weg liegt der Reiz zum einen in dem historischen Straßenbelag, zum anderen aber in der begleitenden Vegetation, die den Weg zugleich freigibt und schützt wie eine halbgeschlossene Hand. Der Weg ist gerade, aber nicht vollkommen gerade; er nimmt die Unvollkommenheit des Geradeausgehens in einer galanten oder freundschaftlichen Geste vorweg:
Der dritte Weg schließlich ist sozusagen eine frenetische Bahn ins Nichts, die zur Beschleunigung einlädt und zugleich die Geduld auf die Probe stellt. Die Umgebung erscheint reizarm, bleibt es aber nicht, wenn man weit genug läuft. Auch dieser Situation kann man etwas abgewinnen, und sei es auch nur ein ›Flow‹, der sich aus der Monotonie ergibt:
Eine ›Messung‹ der Attraktivität eines Wanderwegs würde also auf dieser Ebene voraussichtlich scheitern. Wanderwege sind zwar auch unter dem Gestaltgesichtspunkt unterschiedlich attraktiv, aber die Gründe dafür lassen sich nicht in der Form allgemeiner Kriterien (etwa zum Zwecke einer Zertifizierung) formulieren.
Für mich ist das allerdings nicht schlimm, denn ich habe ja als Wanderer keinen Optimierungsauftrag. Wenn ich an einer Verzweigung stehe, kann ich zwar fast immer angeben, welcher der beiden Wege mir jetzt unter dem Gestaltaspekt lieber wäre. Geografisches Streckenwandern erfordert aber genauso wie Fernwandern natürlich die Bereitschaft, gelegentlich auch den nicht-bevorzugten Weg zu wählen.
Unabhängig davon wäre aber eine geschärfte Aufmerksamkeit für den Gestaltaspekt (hinsichtlich des Weges und hinsichtlich der Landschaftsformen) – und vielleicht die Einübung in eine Sprache, in der man dergleichen beschreiben und mitteilen kann – ein Gewinn für das Verstehen dessen, was man tut und was mit einem geschieht, wenn man wandert.
(Zu dieser Skizze gibt es einen ›Vorläufer‹ bei ODS.)