Mehrtageswanderung von ca. 85 km Länge im März 2015
Zur Einstimmung: ›Geografisches Wandern‹ im Umfeld der mecklenburgischen Seenplatte
Unter der mecklenburgischen Seenplatte kann man sich Verschiedenes vorstellen.
Entweder ist das eine Tourismusregion: eine Platte mit Seen darin, die dazu da sind, mit Booten befahren zu werden. Oder es ist ein neumodischer Landkreis (etwas größer als das Saarland, aber nicht so dicht besiedelt), der sich mit der Tourismusregion irgendwie überschneidet, aber ansonsten ebenso gut ›The Middle of Nowhere‹ heißen könnte.
Drittens handelt es sich um einen Naturraum, nämlich um einen wirr gestaffelten Endmoränenzug, der ungefähr von Angermünde im nordöstlichen Brandenburg bis kurz vor Lübeck reicht, also bis in jene Gegend, die bei ODS als Norddeutschland bezeichnet wird.
Wenn man sich bei Google Earth einen Überblick über den Nordosten Deutschlands verschafft, sieht man das recht deutlich: Da gibt es einen langgestreckten schwarzgrünen Bogen, dessen Form ein bisschen so erscheint, als wäre das Eis eigentlich von Süden gekommen und hätte sich dann nicht mehr getraut, bis zur Ostsee vorzustoßen. Aber es war natürlich umgekehrt; das Eis kam von Norden, und weil es im Nordosten Deutschlands nahezu keine zertifizierten Qualitätswanderwege gibt, wusste es irgendwann nicht mehr weiter und schmolz ratlos dahin.
Andere behaupten, es habe sich zurückgezogen. Jedenfalls nahm es seinen Müll nicht mit, sondern ließ ihn liegen: Moränen, Blockpackungen, Sandflächen und dergleichen; dazwischen ein bisschen Wasser.
Das Gebiet nördlich des Endmoränenzugs heißt Rückland, das Gebiet südlich davon bis zur Elbe heißt entsprechend Vorland. Im Rückland schließt sich an die eigentliche Seenplatte noch die Mecklenburgische Schweiz an, als ein Höhenzug, der sozusagen nach Nordosten von der Endmoräne abzweigt. Wie überall im Nordosten hat man hier ein bisschen getrickst: Um ein optisches Relief zu ermöglichen, liegen die Fließgewässer wie Peene und Tollense nahezu auf Meeresniveau, so dass die benachbarten Moränen nur auf 100 bis 150 Meter ansteigen müssen, um als Schweiz daherzukommen.
Dieses geografische Setting soll jetzt beim Wandern als Orientierung dienen. Wenn man die Routen meiner früheren Reiseberichte aus Brandenburg aneinanderhängt, sieht man, dass ich sozusagen von Südosten in die Seenplatte hineingelaufen bin, um dann ein wenig in ihrem uckermärkischen Teil umherzuirren und schon mal einen isolierten Ausflug ins Rückland und darüber hinaus zu unternehmen.
Einer geografischen Logik folgend, könnte man jetzt der relativ markant ausgeprägten nördlichen Grenze der Seenplatte nach Nordwesten folgen. Nicht dass ich wirklich nach Lübeck wollte. Aber vielleicht nach Schwerin? Oder Warin? Oder Sternberg?
Leider muss man auch wieder zurück. Die wirkliche Route ist ein Kompromiss aus der geografischen Logik und der Logik der Bahnverbindungen. Die Wanderung, von der hier berichtet wird, beginnt daher in Neustrelitz und führt nördlich an Waren vorbei nach Langhagen, in die Übergangszone zwischen Seenplatte und Mecklenburgischer Schweiz. Man läuft also aus der bewaldeten Seenplatte hinaus ins Offene, statt zum Beispiel von Waren über Jabel in die Nossentiner-Schwinzer Heide hineinzulaufen, wo angeblich der böse Wolf wohnt.
Den kriegen wir dann später. Einstweilen geht es um Hunde, Kraniche, Kondens und verwandte Sachverhalte. Vier Tage, neunzig Kilometer, drei Nächte im Zelt. Mecklenburg im März eben.
Obige Karte zeigt die Gesamtroute. Kein GPS-Track, sondern nachträglich in einem mittleren Maßstab eingezeichnet; deshalb sind die Wegpunkte bei starkem Reinzoomen nicht mehr exakt, aber man kann noch erkennen, welcher Weg tatsächlich gegangen wurde.
Tag 1: Sonntag, 8. März 2015
Neustrelitz – Klockow (25,2 km)
»Es muss auch so gehen«
Als an diesem Sonntagmorgen alles gepackt ist, hänge ich den Rucksack an meine Gepäckwaage und stelle fest, dass er nur knapp 11 kg wiegt, trotz mehr als 2 kg Lebensmitteln. Ein guter Wert, finde ich. Aber schon auf dem Weg zur S-Bahn fällt mir ein, was fehlt. Die Wasserflasche ist nicht nur nicht mitgewogen worden. Sie wurde auch nicht eingepackt.
In diesen Minuten, da man die letzten Vorkehrungen für mehrtägige Abwesenheit getroffen und das Haus verlassen hat und sich denken kann, dass man vermutlich den Zug erreichen wird, sollte eigentlich das Feenpferd auf der Bildfläche erscheinen. Die Sonne scheint, ein paar Krokusse blühen, man schwingt sich kühn auf das Einhorn und hält sich an der Mähne fest, weil es ja losgeht. Stattdessen dieser Stich: Du bist zu blöd zum Rucksackpacken, jetzt musst Du gleich zu Anfang improvisieren.
Dann fällt mir ein, dass man natürlich am Bahnhof Getränke in PET-Flaschen kaufen kann und es auch in Neustrelitz einen Kiosk gibt. Man kann es nicht genau wissen, aber er wird wohl offen sein. ›Es muss auch ohne Nalgene Oasis gehen‹ – sehr frei zitiert nach irgendeinem toten Preußen. ›Und geht auch‹, würde Fontane hinzufügen.
Neustrelitz: Residenz ohne Residenzschloss, nachdem selbiges 1945 zerstört wurde. Besichtigung des Schlossparks steht nicht auf der Tagesordnung. Ich kaufe also am Bahnhof Apfelschorle, lasse eine leere PET-Flasche mit Leitungswasser auffüllen und gehe durch die Stadt zum Hafen, anschließend am Zierker See entlang nach Norden aus der Stadt hinaus.
Das Wetter ist überirdisch sonnig, man kann im T-Shirt laufen und froh sein, dass man nach dem letzten Blick auf die Wettervorhersage auch noch die Sonnenmilch eingepackt hat.
Eine gerade Route von Neustrelitz nach Klockow würde von Zierke nach Kratzeburg durch die Kernzone des Müritz-Nationalparks führen. Das war gestern abend noch nicht ganz klar: ob man diese Zone überhaupt betreten darf. Irgendwo im Internet war zu lesen, dass das nicht der Fall sei, aber diese Information war falsch, wie sich später herausstellt. Noch vorhandene Wege dürfen betreten werden.
Am Vorabend habe ich eine etwas pampige E-Mail an das Nationalparkamt geschrieben: Wenn das Betreten der Wege in der Kernzone verboten sei, könne man doch wohl erwarten, dass man auf der Website des Nationalparks eine Karte finde, in der die Lage der Kernzonenbereiche eindeutig verzeichnet sei. Andernfalls entstehe der Eindruck, dass man in der Region trotz aller warmen Worte über das Wandern gar nicht mit Wanderern rechne, die ihre Route selber planen.
Auf der Wanderkarte des Klemmer-Verlags ist die Kernzone übrigens schraffiert. Aber OSM, komoot und die Kompass-Karte wissen von nichts.
Die Wirkung dieser Unsicherheit auf meine Routenplanung war jedenfalls die, dass ich mich für diese Etappe ganz auf die bonbonfarbigen Nationalparkwege der Klemmer-Karte konzentriert und den Umweg über das Forsthaus Langhagen gewählt habe. (Es heißt wirklich Langhagen, hat aber nichts mit dem Dorf und dem Bahnhof zu tun, an dem diese Tour später enden wird. Mehrfach auftretende Ortsnamen gibt es in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern viele.)
Kiebitzbruch und Langhagen
Der kürzeste Weg in den Nationalpark hinein führt dann augenscheinlich über das schön gelegene Gutshaus Kiebitzbruch. ›Privatgelände, keine Durchfahrt‹, steht auf dem Schild. Aber ich fahre ja auch gar nicht. Also gehe ich weiter, bis nach vielleicht 20 Metern die beiden Hunde auf mich aufmerksam werden und sich begeistert bellend meiner annehmen. Oh, denke ich, offenbar habe ich das Schild falsch interpretiert. Also gleich mal umkehren. Ich gehe im gleichen Tempo zurück, und der eine der beiden Hunde (ein blonder Hovawart) eskortiert mich eng bis zur Grundstücksgrenze. Das Gutshaus ist hier nahezu 100 Meter entfernt, man sieht es im Hintergrund des Parks. Irgendwo dort hinten steht jemand und harkt Laub und ruft »Hallooo! Ste–hen–bleiben!« Aber das passt aus meiner Sicht nicht ganz zum Verhalten des Hundes, so dass ich nur so was denke wie ›Ja ja, ganz bestimmt‹ und das Gelände auf direktem Wege verlasse.
Anschließend weiche ich nach Südwesten aus und erreiche den Nationalparkweg bei dem Dorf Prälank. Der einzige Bewohner, den ich dort treffe, hat ein Sprüchlein auf Lager: »Die Bundeswehr ist überall, wa?«, aber ich antworte nur ganz uninspiriert: »Ja, wahrscheinlich.« Das bleibt diesmal die einzige Szene dieser Art; später gehe ich anscheinend als Wanderer durch.
Der Nationalpark ist in diesem Bereich in erster Linie ein Kiefernwald, der (genauso wie der Fichtenwald im Nordschwarzwald) durch die allmähliche Verwilderung nur gewinnen kann.
Unterwegs auf dem breiten Fahrweg begegnen mir bis zum Forsthaus Langhagen zwei, drei Autos. Ein paar Fußgänger mit zwei kleinen Hunden und einer Plastiktüte kommen zu meiner Überraschung weglos aus dem Wald gestapft. Wahrscheinlich sammeln sie Frühjahrspilze. Für einheimische Pilzsucher gelten im Nationalpark Sonderregelungen. Später dröhnt ein Quad vorüber und biegt in einen Nebenweg ab. Dieses Fahrzeug sehe ich später wieder, als ich am Forsthaus Pause mache.
Kratzeburg
Jenseits des Wohnplatzes Langhagen werden Wald und Gelände etwas abwechslungsreicher, bis man schließlich wieder auf die Bahnstrecke Berlin-Rostock stößt, die hier in Kratzeburg, auf halbem Weg zwischen Neustrelitz und Waren, einen Haltepunkt hat.
Das Nationalparkdorf Kratzeburg glänzt heute mit einem geschlossenen Fischimbiss. Vielleicht gibt es in der Saison sogar mehrere Einkehrmöglichkeiten, an einem Sonntagnachmittag im März allerdings sollte man die Gaststättenmarkierungen auf der Wanderkarte nicht so ernst nehmen.
Ausgleichshalber lasse ich mich mitten im Ort an der Bushaltestelle nieder, packe den Kocher aus und koche meinen Kurzkochreis, anschließend auch noch einen Kaffee. Irgendwann kommen zwei Jugendliche angeradelt und fragen nach Feuer. Sie wollen auch wissen, was ich hier mache, und als ich mich als Wanderer oute, meint die eine (mit einigem Nachdruck) zur anderen: »Siehste, hab ich Dir doch gesagt!«
Natürlich habe ich Feuer, aber sie drucksen ein bisschen herum, bis sich herausstellt, dass es hier nicht ums Rauchen geht, sondern darum, irgendwo drüben am Seeufer ein Feuer in Gang zu bringen. Ich leihe also eines meiner beiden Feuerzeuge aus, und als es dann zurückgebracht wird, verschenke ich es doch noch, weil man ja nicht weiß, ob das Feuer nicht inzwischen schon wieder ausgegangen ist. Demzufolge habe ich fortan kein Ersatzfeuerzeug mehr.
Gerne hätte ich auch noch meine Wasserflaschen aufgefüllt, aber im Ort gelingt das nicht, denn der Friedhof hat diesmal keine Wasserleitung und die zahlreichen Anwohner lassen sich auch nicht in ihren Gärten blicken.
Klockow
Ungefähr um halb fünf breche ich auf, um die letzten sieben Kilometer bis nach Klockow zurückzulegen. Der Weg verläuft parallel zur Bahnstrecke in kaum 200 Meter Abstand, und der Wald ist so öde, dass einem fast unheimlich werden könnte. Obendrein bin ich müde.
Als ich um viertel nach sechs in Klockow eintreffe, dämmert es schon deutlich. Man könnte angesichts der geringen Größe des Ortes und angesichts der sich verzweigenden Wege Angst haben, bei einbrechender Dunkelheit an dem Ort vorbeizulaufen. Denn eigentlich handelt es sich nur um eine Lichtung mit drei oder vier Häusern in den unendlichen Weiten des Kiefernwaldes. Die Hälfte der Lichtung wird von dem Campingplatz eingenommen, der auch im Winter geöffnet ist und wo ich mein Kommen vorsichtshalber angemeldet habe.
In der Gaststätte findet heute eine Frauentagsfeier statt. Der Wirt hat natürlich mit mir gerechnet, und so werde ich jetzt mit dem Zuruf »freie Platzwahl« begrüßt. Aber ich brauche erst mal einen Kaffee, bevor ich in der Dämmerung unten bei den Maulwürfen mein Zelt aufbaue. Ein oder zwei Dauercamper sind wohl auch vor Ort, aber mein Zelt ist das einzige.
Den Abend verbringe ich beim Essen in der Gaststätte, etwas abseits der Feiernden. Aber später schließt sich noch ein Gespräch mit dem Betreiber an, in dem es mal wieder ein bisschen um Tourismuskonzepte und Geschäftsmodelle geht, diesmal unter besonderer Berücksichtigung des Nationalparks. Dass Gaststätte und Campingplatz hier draußen im Winter geöffnet bleiben, liegt natürlich daran, dass die Betreiber ohnehin hier wohnen und einen Teil des Umsatzes mit Gruppenfeiern und Catering-Service machen.
Das mit dem Catering-Service scheint übrigens in diesen Regionen eine Art Trend zu sein. Man spart sich die Saalmiete und feiert zuhause. Selbst ausgezeichnete Restaurants wie zuletzt die Gaststätte »Zur Eisenbahn« in Ringenwalde (bei Templin) schließen irgendwann, und der Koch versucht es dann mit einem Catering-Service.
Tag 2: Montag, 9. März 2015
Klockow – Alt Falkenhagen (22,9 km)
Kirrung zum Frühstück
Eine Weile lang während dieses Winters habe ich geglaubt, das Hauptproblem bei Touren im Winterhalbjahr sei die lange Dunkelheit, die man ohne aufwendiges Kochen, Gesprächspartner oder gedruckten Krimi nicht aushalten könne (mit Krimi aber erst recht nicht). In Wahrheit ist die Dunkelheit ein Vorteil. Sie hat einfach die Wirkung, dass man auf jeden Fall morgens ausgeschlafen sein wird, auch wenn man nicht gleich einschläft oder zwischendurch wachliegt. Wenn man am frühen Abend sein Zelt aufbaut, ist man sowieso müde vom Wandern und ›könnte sich jetzt eigentlich mal hinlegen‹. Das tut man dann und hat eine ziemlich geruhsame Nacht.
In dieser Nacht bin ich allerdings erst nach Schließung der Gaststätte schlafen gegangen und habe nachts das verdaute Bier in den beheizten und sehr sauberen Sanitärcontainer getragen. Trotzdem blieb noch etwas Feuchtigkeit zum Ausatmen übrig, die im Sinne eines Vorgeschmacks auf die kommenden Nächte an der Zeltwand kondensierte.
Frühstück ab acht. Meine Bedenken, ob man den Aufwand für einen einzelnen Gast überhaupt auf sich nehmen wolle, waren gestern mit leisem Spott in den Wind geschlagen worden: »Na ja, wir essen ja selber auch was.«
Während des Frühstücks unterhalte ich mich länger mit der Chefin. Es geht dabei unter anderem um die Quadfahrer im Nationalpark, um illegale Rotwild-Kirrung und um Trophäenjagd. Sie schildert mir die Situation. Den Jägern, so die Vermutung, ist es lieber, wenn möglichst wenig Besucher im Wald sind.
Als ich aufbreche, ist es bereits halb elf.
Ursprünglich hatte ich vor, die Stadt Waren zu durchqueren, aber heute früh habe ich es mir anders überlegt und biege daher nach drei Kilometern Richtung Kargow ab, um nordöstlich an Waren vorbeizulaufen.
Noch einmal kann man einen Blick auf die Bahnstrecke werfen. Bis hierher sind es von Neustrelitz 25 km mit dem Zug, 28 km zu Fuß.
Ein Güterzug fährt vorbei, während ich hier Pause mache. Ob der Zugführer zurückwinkt, kann ich nicht erkennen. Womöglich winkt man besser nicht, man will ja nicht mitfahren.
Kleines Feuer im Nationalpark
Am Rand des Nationalparks öffnet sich die Landschaft allmählich. Nebenbei lockert auch die Bewölkung wieder auf, nachdem es morgens grau gewesen war.
An einem Rastplatz findet sich eine gute Stelle für den Kocher. Also mal Reis kochen, ist ja Mittagszeit. Dazu erhitzt man 100 ml Wasser im Kaffeebecher und schüttet dann den Kurzkochreis aus einem Kochbeutel hinein. Anschließend wird der Becher in die Isolierhülle einer US-Feldflasche verpackt, damit der Reis 10 Minuten quellen kann.
Die zugehörige Feldflasche taugt übrigens nichts, aber die Hülle hat hier immerhin noch einen Nutzen; sie dient außerdem als Transporthülle.
Nach zehn Minuten wird der Reis mit 40 g Kräuterbutter versetzt, so dass man sich das vorherige Salzen sparen kann. Wenn es nicht zu kalt ist und man den Becher während des Quellens hinreichend isoliert hat, genügt die Wärme, um die Butter zu schmelzen.
Der Becher lässt sich nach dem Essen leicht mit einem Tempotaschentuch reinigen, ohne dass man fürs Abspülen Wasser verbrauchen muss.
Als alles gegessen und wieder eingepackt ist, kommt ein Auto in der Farbe meines Rucksacks angefahren. Darin sitzt ein Mann mit einer Art Sepplhut (das ist der charakteristische Hut der Nationalpark-Ranger im Müritz-Nationalpark). Er schaut heraus und guckt wohl, was ich da so mache. Aber weil ich eigentlich gar nichts mache, steigt er gar nicht erst aus, sondern wendet und fährt wieder weg.
Wasser zu verschenken
Ein gutes halbes Stündchen später bin ich in Kargow. Die Karte zeigt dort ein Gaststättensymbol, aber ich spare mir den Abstecher zu dem Hotel, auf das ein Schild an der Straße hinweist. Die Wasserflaschen würde ich allerdings gerne auffüllen. Wieder bietet sich zunächst keine Möglichkeit, weil im Ort kein freilaufender Mensch zu sehen ist.
Immerhin fahren während meines Aufenthaltes einige Autos vorbei. Eins hält an; Ehepaar mit einem Hund, der sich aus dem Fond lautstark ins Gespräch einmischt. Sie möchten von mir wissen, wo es in den Nationalpark hineingeht. Ich verweise auf die entsprechenden Schilder, die ich an der Kreuzung gesehen habe. Dann reden wir noch kurz über meine Pläne und über die Gaststättensituation. »Ich wäre ja schon zufrieden, wenn es Leitungswasser gäbe.« Die beiden haben gerade eingekauft, und so bekomme ich jetzt netterweise eine große Flasche stilles Wasser geschenkt.
Dass letztlich auch das Wasser nicht aus einem Haus, sondern aus dem Auto kommt, ist irgendwie nur logisch, denn die übergroße Mehrzahl der Menschen, denen man unterwegs begegnet, sitzt in einem Fahrzeug.
Inzwischen scheint auch wieder die Sonne. Vor dem verfallenden Gutshaus trage ich meine Sonnenmilch auf, fülle den größten Teil des Wassers in meine Flaschen um und verliere fast meine Uhr, weil sie sich beim Absetzen des Rucksacks wie üblich verfängt und sich diesmal das Armband sogar löst. Aber das ist schnell behoben.
Die Klugheit der Kraniche
Das nächste Zwischenziel ist Torgelow am See. Das ergibt sich aber erst in Kargow, weil sich herausstellt, dass die Straße nach Schmachthagen relativ stark befahren ist. Und wenn man sowieso Richtung Neu Schloen läuft, kann man auch gleich nach Torgelow weiterlaufen, wo das nächste Gaststättensymbol auf der Karte steht.
So genau will es wahrscheinlich keiner wissen. Aber es macht zumindest deutlich, dass im Verlauf der Etappe die ursprüngliche Routenplanung keine allzu große Rolle mehr spielt. Man muss nur auf die Karte schauen und ungefähr die Richtung halten, so dass man gewisse Chancen hat, am Donnerstagabend Güstrow zu erreichen. (Zu diesem Zeitpunkt ist Güstrow noch das Ziel.)
Ich gehe also in der gleißenden Sonne über einen echten Feldweg nach Neu Schloen und begegne unterwegs den ersten Kranichen. Nicht dass ich ihnen wirklich nahe käme. Sie stehen halt auf den Feldern. Wenn ich mich nähere, stoßen einzelne von ihnen Warnrufe aus. Bald darauf fliegen sie auf, erst einzelne, dann irgendwann alle. Beim Auffliegen checken sie wahrscheinlich, in welche Richtung ich gehe, und kommen sich klug dabei vor, wenn sie sich etwas weiter in meiner Laufrichtung wieder niederlassen. Und das wiederholt sich dann.
Neu-Schloen liegt an der Bundesstraße 192. Die Gaststätte »Zum Blitzer« liegt direkt an der Straße, ein bisschen wie eine Autobahnraststätte. Dass sie offen ist, hat also nicht den Grund, dass man hier auf Wanderer lauert. Ich gehe aber trotzdem hinein und trinke Kaffee, lasse außerdem eine Wasserflasche auffüllen und gebe die geschenkte Pfandflasche ab, die ich bis dahin in der Hand getragen habe. Das Personal ist freundlich, wenn auch leicht gelangweilt. »Guten Weg noch«, heißt es zum Abschied.
Quasseln in Torgelow
Nach Torgelow geht es zuerst an einer wenig befahrenen Allee entlang; später zweigt ein Uferweg von der Straße ab.
›Internat und Privatgymnasium‹ steht auf der Karte. Das schaue ich mir aber erst zum Schluss an, womöglich hätte ich es ausgelassen. Vorher laufe ich durch den Ort. Die Gaststätte ist im Winterhalbjahr geschlossen. Nur am Dienstagabend ist sie ›für die Schüler‹ geöffnet. Das steht da so.
Ich treffe zwei einheimische Radfahrerinnen auf der Straße und lasse mir den Weg zum Landhandel weisen. Es gibt hier also eine Einkaufsmöglichkeit. Außerdem bekomme ich dort einen Kaffee und eine Bockwurst. Und natürlich ein Gespräch. Außer der Betreiberin ist noch ein knorriger Einheimischer zugegen, dann kommt noch ein Eiscafébesitzer aus Waren herein, der sich ebenfalls einen Cowboykaffee für 50 Cent holt. Es gibt nämlich keine Kaffeemaschine.
Wir quasseln eine Weile. Ich erkläre meinen Wanderplan und sage, dass ich mir heute Abend irgendwo draußen einen Zeltplatz suchen werde. »Mich schuddert’s schon bei dem Gedanken«, meint die Landhändlerin.
›Das liegt aber nur daran‹, denke ich bei mir, ›dass Sie nie durch das Stahlbad der ODS-Ausrüstungskaufberatung gegangen sind‹ – und höre mich stattdessen sagen: »Na ja, einen warmen Schlafsack braucht man natürlich schon.«
Das Gespräch mit dem Eiscafémenschen aus Waren beginnt hingegen bei meiner Bundeswehrausrüstung und endet bei der Parkraumbewirtschaftung im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg.
Inzwischen ist Schulschluss, und ein paar Schülerinnen und Schüler kommen herein, um Weingummiprodukte zu kaufen. »Grundnahrungsmittel«, kommentiert der Eiscafémensch, und bekommt zur Antwort: »Ja, genau.« Das Sortiment des Ladens ist in gewisser Weise darauf eingestellt.
Ich dränge mich jetzt selbst zum Aufbruch, denn es ist inzwischen halb fünf. Das Internat habe ich immer noch nicht gesehen. Ich gehe also wieder zum See hinunter, finde dort ein relativ kleines weißes Schloss, vor dessen Portal gerade einige Schüler in den privaten Schulbus steigen, und mache ein paar Fotos. Es laufen einige Schüler umher, aber ich nehme sie höflicherweise nicht mit ins Bild.
In Torgelow gibt es ja Kopfnoten. Auf gutes Betragen wird also Wert gelegt. Und offenbar hat man diesen Menschen beigebracht, jeden Besucher, der sich hier eventuell blicken lässt, mit einem klaren und wohlartikulierten »Hallo« zu grüßen. Das geschieht jetzt mehrfach, während ich mit der Kamera über das Gelände gehe, und ich gestehe, dass ich das angenehm finde.
Wie elitär dieses Internat tatsächlich ist, erfahre ich später aus dem Internet. Die Jahresgebühr beträgt ungefähr 32.000 Euro, Stipendien gibt es kaum.
Zeltplatzsuche – und noch ein Hund
Es ist fünf Uhr, als ich den Ort hinter mir lasse. Da ich seit dem Morgen noch keine zwanzig Kilometer zurückgelegt habe, beeile ich mich ein bisschen in der Absicht, mir später irgendwo zwischen Jägerhof und Alt Falkenhagen einen Zeltplatz zu suchen. Auf der Karte sieht es nämlich so aus, als wäre das ein schön weitläufiges Areal mit etwas Relief und genügend Abstand zu den Ortschaften. Aber man kann eben auf der Karte nicht erkennen, ob es sich um Wiesen und Brachflächen oder vielmehr um intensiv bewirtschaftete Felder handelt. Einen wunderschönen Zeltplatz mit Blick auf den Baltenberg und Klein Gievitz lasse ich mir entgehen.
Etwas weiter, in Carlsruh, einem Wohnplatz von drei oder vier Häusern, habe ich meine nächste Hundebegegnung. Ein Schäferhund erscheint auf dem Weg und ist zunächst wie vom Donner gerührt, als er mich sieht. Dann läuft er begeistert bellend auf mich zu. Die Halterin ist freilich in der Nähe. Ich frage, ob ich weitergehen kann. »Ja, der ist nur neugierig.«
In der Tat ist er ziemlich neugierig. Statt nur am Handrücken zu riechen, den ich üblicherweise hinhalte, drängt er sich wie eine Katze an meine Beine und setzt mir seine Pfote auf den Oberschenkel. Immer noch begeistert bellend. Die Besitzerin weiß auch nicht, was mich so interessant macht. »Haben Sie selbst einen Hund?« Vielleicht sei es der Geruch.
Einen Hund habe ich nicht. Geruch ist aber schon möglich.
Auf Carlsruh folgt Jägerhof. Und in Jägerhof, wo die Hunde zwar bellen, sich aber nicht blicken lassen, gehe ich dann aufs offene Feld hinaus, dem Weg folgend, der später Richtung Alt Falkenhagen abknickt. Die anfänglichen Brachwiesen liegen alle noch im Blickfeld der Häuser, und nach dem Abknicken des Weges befindet man sich leider zwischen großen Getreidefeldern und findet kaum noch einen Platz, der für das Zelt ausreichen würde. Auch wird es jetzt bald dunkel.
Erst an einem kleinen Weiher habe ich sozusagen Glück und finde eine ebene grasige Fläche, sozusagen eine Abstell- oder Wendefläche, groß genug für einen Mähdrescher oder mehrere Zelte. Der Charme des Ortes hält sich in Grenzen, aber hier muss ich jetzt bleiben.
Später werde ich aus dem Verlauf dieser Zeltplatzsuche die Regel ableiten, dass man in der letzten Stunde vor Sonnenuntergang einen angenehmen Platz wie den vorhin verpassten unbedingt in Anspruch nehmen sollte, auch wenn man dadurch die Tagesetappe eventuell verkürzt. Es ist in dieser Landschaft nicht wirklich schwierig, einen Platz zu finden, aber wenn man zu lange zögert oder sich darauf festlegt, bis zum Sonnenuntergang weiterzulaufen, hat man eben zuletzt keine Wahl mehr.
Nacht zwischen den Feldern
Die Nacht ist kühl und anfangs sternenklar. Im Zenit wölbt sich ein echter Sternenhimmel mit Milchstraße, über dem kleinen Weiher steht Orion mit seinem Begleiter. Sirius ist ein Hund, aber er bellt nicht. Darauf ist Verlass. Er sollte eigentlich der hellste Fixstern sein, ist es aber nicht, weil er schon zu tief steht. Am Horizont ist der Himmel vergleichsweise hell, wegen des Dunstes und wegen der Ortschaften (denke ich), aber dann geht im Osten auch noch der Mond auf und umgibt sich mit milchigen Wolkenbändern.
Ich sehe das, weil ich auf dieser Seite das Zelt offen gelassen, das Außenzelt aufgerollt habe. Der Mond schaut ins Zelt hinein, um zu sehen, was Igelstroem so macht. Und Igelstroem schaut aus dem Zelt heraus, um zu sehen, was der Mond so macht. So geht das eine Weile. Irgendwann schließe ich wohl das Zelt, weil das Licht zu hell zum Schlafen ist.
Draußen gibt es ein paar Geräusche.
Flapp-flapp-flapp-flopp-flopp—pffschschsch … Quack! Quack!
Das sind Enten, die angeflogen kommen, auf dem Teich landen und ein bisschen meckern. Das geschieht mehrmals in dieser Nacht. Aber auch Kraniche höre ich irgendwann ganz in der Nähe. Wenn es welche waren. Gesehen habe ich sie nicht.
Tag 3: Dienstag, 10. März 2015
Alt Falkenhagen – Schlehenberg (18,7 km)
Der Morgen ist unerwartet grau, und der Platz tut sein Übriges. Das Zelt ist innen und außen nass, und ich lasse es stehen, während ich mit klammen Fingern Tee und Reis koche. Das Zelt soll derweil ein bisschen in der Sonne trocknen. Aber es gibt keine Sonne. Nichts trocknet. Das Wasser haftet ganz gut auf Silnylon und lässt sich auch später beim Einpacken kaum abschütteln.
Während das Zelt noch steht, zieht auf dem benachbarten Acker ein Monstertraktor seine Bahn. Er hat (nach westfälischen Maßstäben) unglaublich breite Ausleger, aus denen heraus jetzt ein feiner Sprühnebel die jungen Pflanzen schützt. Energiepflanzen, schätze ich mal. Pestizide, schätze ich mal. Der Traktor bewegt sich vermutlich GPS-gesteuert in seiner Fahrgasse. Höchstwahrscheinlich wird er jetzt anhalten, und der ›Bauer‹ wird übers Feld zu mir kommen, um mich in eine rechtshermeneutische Diskussion über mein Zelt zu verwickeln. Ich hebe vorsorglich meine Hand zum Gruß, aber der Traktorist blickt geradeaus. Auch er ist GPS-gesteuert. Für mein Zelt ist er nicht zuständig. Ich baue es ab und packe es nass in den Rucksack.
Dann gehe ich los. Etwas ungelenk wegen der feuchten Kälte. Nach ein paar Schritten beginnt es leicht zu regnen. Kann ja nicht sein, denke ich. Ist aber. Wird allmählich mehr. Die Erfahrung sagt, dass man beim Anlegen der Regenkleidung nicht zögern sollte. Also Regenhose anziehen und dazu das Windshirt – das ich nachts über das Fußende des Schlafsacks gezogen habe, weshalb es jetzt schon etwas feucht ist (was aber nichts macht). Wenig später hole ich auch noch den Schirm heraus.
Alt Falkenhagen ist unter solchen Bedingungen ein trostloser Ort. Man überquert die eingleisige Bahnstrecke von Waren nach Malchin, die jetzt Draisinenstrecke ist. Leider muss man hin und zurück fahren, wie ich später lese. Ansonsten hätte ich nichts dagegen, in dieser Landschaft gelegentlich eine Teilstrecke auf Schienen zurückzulegen.
Der Ort Alt Falkenhagen hat eine Bushaltestelle ohne Sitzbank, wie ich missbilligend feststelle. Ich stehe also da und krame was aus dem Rucksack, während eine Frau im Auto vorbeifährt und sehr große Augen macht. Was guckst Du? Nichts an mir ist heute ungewöhnlich.
Ich bin jetzt in einem Gebiet, für das ich zwei verschiedene Wanderkarten habe: Klemmer und Kompass. Man kann also die Qualität vergleichen. Der Klemmer-Verlag ist in der Region beheimatet, und die Karte stellt sich bei erster Gelegenheit als die zuverlässigere heraus. Das betrifft besonders das Wegenetz. Dass es der Kompass-Karte hier vor allem an Aktualität mangelt, ist keine neue Erkenntnis. Im Bereich zwischen der mecklenburgischen Schweiz und Güstrow hat allerdings der Klemmer-Verlag eine Abdeckungslücke, deshalb braucht man die Kompass-Karte trotzdem.
Schon bei Kilometer 2,5 drängt sich ein Rastplatz auf. Klamm und grün ist das Holz, und ein bisschen morsch. Klamm und ein bisschen grün bin auch ich. Das passt. Da ich vorhin nur Früchtetee gekocht habe, koche ich mir jetzt einen Kaffee aus der Tüte. Mal schmeckt er, mal nicht. Mal klumpt er, mal nicht. Und Esbit ist vergleichsweise schwer anzuzünden; so wird jedenfalls der Daumen warm und trocken.
Aber alles wird gut. Zum Beispiel hört es auf zu regnen, während ich hier sitze. Also mal weiterlaufen. Der Rastplatz liegt am Rand des Naturparks Mecklenburgische Schweiz und Kummerower See, wie das Holzschild anzeigt, und in den laufe ich jetzt hinein, ein paar Kilometer durch den Wald.
Andererseits ist heute ›Tag des Umwegs‹. Es beginnt damit, dass ich nach Westen Richtung Baumgarten laufe statt nach Norden – bis ich aufs freie Feld komme und mir auffällt, dass das nicht richtig sein kann. Also wieder zurück und dann ein bisschen der Wanderwegmarkierung folgen.
Unterwegs im Wald finde ich, dass ich mich mal um Trinkwasser kümmern könnte. Der ein oder andere moorige Tümpel bietet sich an. Auf dem Bild unten sieht man das ungefilterte Wasser. Das gefilterte hat dann wegen der verbleibenden Huminstoffe ungefähr die Farbe einer dünnen Apfelschorle.
Etwas weiter stoße ich auf eine Grillhütte, und weil es schon gegen Mittag geht und die Sonne gerade herauskommt, lasse ich mich dort nieder und breite das Zelt zum Trocknen auf einem der Tische aus. Viel nützt es übrigens nicht. Aber weil ich sowieso herumsitze, koche ich Reis mit Huminwasser.
Ein paar Kilometer weiter führt der Weg bei Marxhagen wieder aus dem Wald heraus. Und es ist vielleicht kein Zufall, dass man sich später an die Wegabschnitte in der Offenlandschaft viel genauer erinnert als an die Waldstrecke.
Inzwischen scheint also die Sonne, und das Gaststättensymbol, das auf der Karte beim Schloss Ulrichshusen verzeichnet ist, übt eine magische Anziehungskraft aus. Lieber Ulrichshusen als Marxhagen. Das Landschaftserlebnis ist typisch für diese Gegend: Der lauschige Feldweg steuert auf einen flachen Hügel zu, über dem sich ein großzügiger Himmel spannt, und wenn man den Hügel überquert, öffnet sich unverhofft ein weiter Ausblick, der ›in der Ferne‹ durch eine zweite Hügelkette begrenzt ist. Und unten in der Senke, in die man nun hineinläuft, liegt also ein See mit einem Schloss.
Die bunte Symbolik der Wanderkarte suggeriert dem tourismusgewöhnten Betrachter eine Art Hotspot mit Biergarten und vielleicht einem Hofladen und einem Bootsanleger, aber wenn man da ist, findet man nur eines dieser allzu gepflegten Schlosshotels, von denen es in der Region einige gibt. Ich betrete also das Foyer und frage an der Rezeption, ob man wohl irgendwo einen Kaffee bekommt, aber das Restaurant ist heute geschlossen. Man bekommt also keinen Kaffee.
Immerhin ist es möglich, das Wasser aus dem Wald gegen Leitungswasser auszutauschen. Danach breche ich wieder auf und laufe zuerst nach Rambow, von dort mangels geeigneter Wege entlang der Straße Richtung Moltzow.
Letztlich ist das keine gute Idee, aber es ergibt sich eben aus dem Abstecher nach Ulrichshusen. Auf der Straße von Rambow nach Moltzow ist wahrscheinlich schon seit Menschengedenken niemand mehr zu Fuß gegangen. Der Verkehr ist nicht sehr lebhaft, aber es gibt jedenfalls welchen. Alle zwei Minuten kommt ein Auto vorbei. Nach anderthalb Kilometern, auf halbem Weg nach Moltzow, zweigt beim Schlehenhof ein Weg ab, den ich gerne nehmen würde. Aber dazu kommt es nicht, weil der schöne große Hund des Schlehenhofes bei meiner Annäherung durch das offene Tor auf die Straße läuft und mir auf meiner Seite begeistert bellend entgegenkommt. Ich warte gar nicht ab, was das zu bedeuten hat, sondern kehre um. Der Hund folgt mir noch ein bisschen, und der Fahrer des entgegenkommenden Lastzugs, der erst mal abbremsen muss, wundert sich wahrscheinlich. Aber das ist nicht mein Hund.
Was jetzt? Ich laufe ein Stück zurück und versuche den Hof auf einem Feldweg zu umgehen, der laut Karte irgendwo zwischen den Feldern unterbrochen ist. Vielleicht kann man den fehlenden halben Kilometer querfeldein oder am Feldrand gehen. Das versuche ich, aber es gelingt letztlich nicht, weil ein dichtes Gehölz und ein Weidezaun im Weg ist. Hier hätte man das Satellitenbild zur Orientierung gebraucht, dann hätte man sich vielleicht durchschlagen können. Es fehlen kaum 200 Meter, um den Feldweg nördlich von Moltzow zu erreichen. Frustriert kehre ich um. Das Gehen am Rand des gepflügten Feldes, erst bergab und dann zurück wieder bergauf, ist anstrengend.
Zurück auf der Straße, mache ich einen halbherzigen Versuch, in Richtung Moltzow zu trampen, aber es kommt eben nur gelegentlich ein Auto, und die Fahrerinnen sind meistens mit Telefonieren beschäftigt. Immerhin hält jemand an und erkundigt sich, wieso ich hier unterwegs bin, aber die Fahrtrichtung ist die falsche.
Schließlich mache ich mich von Rambow Richtung Dahmen auf den Weg, weiche also weiter nach Norden aus. Das entspricht nicht der Planung, ist aber auch kein dramatischer Umweg, denn es ist letztlich egal, ob man nun über Klocksin oder über Dahmen nach Langhagen läuft.
Der Weg geht bergab (Dahmen liegt ja am Malchiner See), und als ich unten bin, finde ich einen Rastplatz vor, wo ich jetzt Pause mache, um anschließend einen Zeltplatz zu suchen. Es ist nämlich bereits 17 Uhr.
In der Nähe fährt jemand mit einem Traktor hin und her und transportiert Heuballen; es ist wohl der Eigentümer des benachbarten Bauernhofes, der vorhin schon mal im Vorbeifahren gegrüßt hat. Als er jetzt wieder an meinem Rastplatz vorbeikommt, spreche ich ihn an.
»Aha, der Wandersmann.« Er steigt von seinem Gefährt, und ich frage ihn, ob er mir einen Zeltplatz für die Nacht empfehlen kann. Wir reden ein bisschen über meine Route und über mögliche Plätze. Möglichst nicht hier unten (wegen der Abzugsgräben), sondern ein bisschen weiter oben am Berg, meint er. »Alte Pfadfinderweisheit.« Also zum Beispiel dort den Weg hinauf, bis Sie rechts und links zwei Eisentore sehen. Dann durch das rechte Tor auf die Wiese. Nicht nach links, da stehen nämlich die Viecher.
So mache ich das. Und deshalb endet der Tag versöhnlich. Oder sogar grandios. Denn die Weide hinter dem Eisentor ist ein trockener Hügel, von dem aus man einen großartigen Ausblick nach Norden Richtung Dahmen hat; auf der anderen Seite liegt der Wald.
(Die Bilder sind ein bisschen zu dunkel, aber Reinklicken und Vergrößern hilft ein bisschen. Anschließend mit dem Zurück-Button zurück zum Bericht; nicht das Browserfenster schließen!)
Über dem Zelt gibt es wieder einen Sternenhimmel zu bewundern, für den allein sich die Anreise schon gelohnt hätte. Bevor ich einschlafe, denke ich darüber nach, wie sehr sich das für die Menschen vor Erfindung des elektrischen Lichts aufgedrängt haben muss. Nicht als ungewöhnliches Naturerlebnis, sondern als normaler Zustand des nächtlichen Himmels, sofern der nicht bewölkt war. Und wie schwierig muss es gewesen sein, sich auf diese ebenso aufdringliche wie ungreifbare Wirklichkeit einen Reim zu machen: ohne jeden neuzeitlichen Begriff von ›Weltraum‹ und ›anderen Sonnensystemen‹.
Tag 4: Mittwoch, 11. März 2015
Schlehenberg – Langhagen (18,5 km)
Im Rücken des Fotografen, im waldzugewandten Teil der Weide, steht eine Eiche, jener Baum also, der nach der Linde und der Weißtanne die drittmeisten Dichter im deutschsprachigen Raum inspiriert hat:
Mich dünkt, ich düngte zweimal Dich in dieser Nacht.
Ein schwacher warmer Strahl trifft sacht
auf Deine Rinde, springt wie Glas
im kalten Licht der Stirndioden.
Ein Käfer schreckt aus seinem Schlaf und fragt sich: Was
hat das nun zu bedeuten? Ein Schuh wird nass
und später auch der Boden.
Der Aufenthalt in der Natur kann es fernerhin mit sich bringen, dass man morgens durch eine Motorsäge geweckt wird. Im angrenzenden Waldstück sehen einige Bäume ihrer Zerkleinerung entgegen. Zwei Warnwesten schauen, als ich das Zelt verlasse, zu meinem Hügel herauf; vielleicht steckt der Eigentümer meines Zeltplatzes selbst in einer dieser Westen, aber ich kann es von hier aus nicht erkennen.
Das Zelt ist nass, so als hätte jeder Stern des Himmels einen kleinen Tropfen auf ihm hinterlassen. Aber innen ist es nicht anders. Draußen heißt es Tau, drinnen heißt es Kondens, damit die Verantwortung richtig verteilt ist. Den Molekülen ist es egal; sie fliegen nur umher und suchen eine kalte Zeltwand, an der sie sich vergesellschaften können.
Ich packe sehr langsam zusammen und lasse das Zelt noch eine Weile stehen, in der Hoffnung, dass gleich die Sonne herauskommt. Aber es ist zwecklos. Kurz nach Sonnenaufgang hat sich der Himmel mit freundlichem Gewölk bezogen, und auch der zugehörige Wind denkt gar nicht daran, eine trocknende Wirkung zu haben. Ich packe also das Zelt so ein, wie es ist. Ungefähr um halb neun breche ich auf, Richtung Dahmen. Meinen ›Gastgeber‹ sehe ich nirgends.
Weil ich gerade Empfang habe, telefoniere ich im Gehen und erkundige mich bei jemandem, der es wissen muss, wie man mit dem nassen Zelt am besten umgeht. Abwischen mit einem Schwammtuch lohnt sich nicht wirklich. Man kann nichts machen, das ist die Jahreszeit. Vielleicht tagsüber mal unterwegs zum Trocknen ausbreiten, wenn die Sonne scheint.
Dann bin ich in Dahmen, das ich mir nach der Lage und den Zeichen auf der Wanderkarte als einen reizenden und belebten Touristenort am Malchiner See vorgestellt habe. Dass es am See liegt, stimmt, aber man sieht das nicht gleich. Die Straße dominiert das Ortsbild, der See liegt unten hinter den Häusern. Ich treffe jemanden, der vergeblich versucht, seinen jungen Hund zu erziehen, und frage ihn nach einer Einkaufsmöglichkeit. Es gibt tatsächlich einen kleinen, versteckten Laden am Hintereingang eines Hauses, täglich geöffnet von neun bis zehn Uhr morgens. Das passt. Ich kaufe Schokolade; Feuerzeuge gibt es nicht.
Von Dahmen aus gehe ich auf einem befestigten Weg durch die Feuchtwiesen am Malchiner See. Es gibt eine ziemlich hohe überdachte Aussichtsplattform aus Holz, von der aus man auf den See schauen kann: Vögel gucken, wenn welche da sind. Der Kamera-Akku ist fast leer, deshalb gibt es keine Fotos von dieser Strecke. Außerdem ist es kalt. Genau genommen ist es kalt, trocken und windig. Irgendwo weiter weg gibt es Wolkenlücken, aber nicht hier. Für eine Weile ziehe ich sogar meine Regenhose an, als Windschutz.
Der Weg wendet sich nach Westen und folgt dem Mühlenbach, bis man in Ziddorf auf die Bundesstraße 108 (Waren – Teterow) stößt. Ziddorf hat eine historische Wassermühle. Eine bunte Fahne lädt zu einem Einkehrversuch ein. Tatsächlich ist die Tür offen. Ich gehe erst in die Gaststube, aber dort ist niemand, dann gegenüber in den Mühlentrakt, wo gerade zwei Männer und eine Frau aus dem Keller heraufsteigen. Nein, die Gaststätte ist eigentlich nicht offen. Einen Kaffee kann ich aber trotzdem bekommen. Und dann sogar ein Stück Käsekuchen. Beides von gehobener Qualität. Während ich mich hier aufhalte, lade ich meinen Akku eine Weile.
Man ist gerade dabei, den alten Kachelofen in der Gaststube wieder in Gang zu bringen, aber er zieht noch nicht richtig. Daher füllt sich die Gaststube ein bisschen mit Rauch, und die Fenster müssen notgedrungen offen bleiben. Aber auf die Kälte oder Wärme kommt es jetzt nicht an, eher auf Akku und Kaffee.
Die Frau ist die Vorsitzende des gemeinnützigen Vereins, der die Mühle jetzt bewirtschaftet, und die beiden Männer, die sich um den Ofen kümmern, sind auch irgendwie mit dem Verein verbunden. Wir unterhalten uns ein bisschen; über den Tourismus, über die Durchlässigkeit der Landschaft für Fußgänger und Radfahrer, über die Hindernisse. Zu DDR-Zeiten wurde jeder Quadratmeter landwirtschaftlich genutzt, deshalb hat man öfters auch die Feldwege weggepflügt. Im Gegenzug war es aber üblich, zu Fuß über die Feldränder zu gehen. Das ist jetzt schwieriger geworden, weil es mehr Zäune gibt.
Ich erzähle von meinem Besuch in Ulrichshusen. Meine Gesprächspartnerin spricht aus, was ich gestern nur gedacht habe.
Und daran könnte man die altbekannte Überlegung anschließen: Der Umgang mit dem hergelaufenen Gast ist eine Frage der regionalen Tradition. Es kann immer und überall so oder so ausgehen, aber die Statistik der guten Überraschungen und der unbestimmten Beklemmungen macht das Thema zu einem Thema der Regionen.
Ich lasse mir noch den Weg weisen, dann folge ich dem Mühlbach jenseits der Bundesstraße weiter nach Großen Luckow, und auf Großen Luckow folgt Klein Luckow. Bewohnte Ortschaften, aber ich treffe keinen Menschen. Auch keinen Hund.
Nur hinter Klein Luckow stehen zwei Arbeitskräfte neben ihren überdimensionierten Landmaschinen am Feldrand. Sie grüßen nicht zurück.
Inzwischen scheint die Sonne wieder, wie jeden Tag.
Mein Ziel ist jetzt Langhagen. Wie weit es von dort noch bis Güstrow wäre, wage ich kaum abzuschätzen. In der Luftlinie werden es 20 km sein, also 30 km zu gehen, und nach den Umwegen des Vortags bin ich skeptisch, wie lange ich wirklich brauchen würde. Jedenfalls habe ich am Freitag einen Kundentermin, und am Donnerstagabend fährt der letzte Zug von Güstrow um einundzwanzig Uhr. Ich müsste heute noch einige Kilometer über Langhagen hinauskommen, um es morgen nach Güstrow zu schaffen, und ich weiß eben nicht genau, wie weit es wirklich ist. Daher der Defätismus. Die Entscheidung, heute von Langhagen zurückzufahren, ist heute morgen im kalten Wind am Malchiner See gefallen.
Von Klein Luckow führt kein direkter Weg nach Langhagen, zumindest ist auf der Kompass-Karte keiner zu erkennen. Man muss den Umweg über Bockholt und Krevtsee nehmen. Beides sind nur Höfe, keine Ortschaften. Ich imaginiere begeisternd bellende Hunde, die sich mir in den Weg stellen, aber sie treten dann doch nicht in Erscheinung.
Die Wege sind übrigens schön.
In Bockholt ist der Weg nach Krevtsee unauffindbar. Ich spreche mal wieder einen Traktoristen an, aber er kennt sich nicht aus und verweist auf die beiden Männer, die da drüben das Gehölz beschneiden. »Ja, ja, da gab es mal einen Weg. Den gibt es auch weiter hinten noch, da müssen Sie hier vorne ein Stück am Zaun entlanggehen, da war früher der Weg.«
So mache ich das, laufe dann durch das kleine Naturschutzgebiet und komme in Krevtsee heraus. Auch hier kein richtiger Hund. Dafür ein sehr gepflegt wirkender Gutshof, wo wiederum Ferienwohnungen vermietet werden. Ich treffe den Hausherrn draußen an seinem Auto, erfrage den Weg nach Langhagen, der eben hier über den Hof führt.
Dann noch einmal mecklenburgische Idylle. Ansteigender Feldweg, links der Wald, rechts der See hinter einer großen, sanft abfallenden Wiese.
Es stimmt: Hoch über mir ziehen zwei Adler ihre Kreise. Aber ich habe kein Fernglas, und das Objektiv der Kamera reicht nur bis zur Porträtbrennweite. Ihr wollt euch aber nicht porträtieren lassen, ich dachte es mir schon. Dann zieht eben weiter eure Kreise. Habe euch gesehen, zwei gefiederte Gestalten am Himmel, mehr nicht.
Zuletzt löst sich der Weg vom Wald und windet sich an der Kiesgrube entlang nach Langhagen. Schilder warnen davor, sich der Abbruchkante zu nähern.
Kiesgrube, Langhagen, Bahnhof. Erinnerung an das schwerste Zugunglück in der Geschichte Mecklenburgs: Am Abend des 1. November 1964 kollidiert hier der Schnellzug Berlin – Rostock mit einem kiesbeladenen Güterzug …
https://de.wikipedia.org/wiki/Eisenbahnunfall_von_Langhagen_%281964%29
Ungefähr um halb vier geht mein Zug.
Zuhause angekommen wiege ich mein nasses Zelt: Es wiegt 930 statt 700 g; der Daunenschlafsack hingegen hat weniger als 30 g Feuchtigkeit aufgenommen.
[Fazit]
es schon ein wirklich schönes – dieses mecklenburger land. gerade bei diesem wetter, wie Du es hattest ist es für mich das schönste, das ich kenne!
vielen dank für diesen wunderbar geschriebenen reisebericht.
und wenn Dein weg dich dann doch noch weiter richtung westen führt, laüft man sich ja vielleicht sogar mal über selbigen.
lohnt sich auf jeden fall !(also der weg…)
Inzwischen habe ich es bis nach Blankenberg geschafft, also in Deine frühere Heimat. Der Bericht (›Kirschsaft mit dem Jagdpächter‹) ist aber noch nicht fertig.
Eine interessante Website hast Du, mit sehr eindrücklichen Wanderberichten aus der Gegend. Hat mich beim Lesen nur etwas gewundert, dass ihr euch beim Übernachten quasi versteckt. Der Naturpark Nossentiner-Schwinzer Heide ist ja kein Nationalpark und kein Naturschutzgebiet; also würde man außerhalb des Waldes legal für eine Nacht wildzelten können, wenn man nichtmotorisiert unterwegs ist.
blankenberg ist ein wirklich guter startort für wanderungen durch mecklenburg – von wo aus bist du dahingekommen?
Nun – ich bin wieder in Langhagen losgelaufen, wo die vorige Wanderung endete. Aber die Beschreibung der Route sollte dem kommenden Bericht vorbehalten bleiben … (Habe mir vorgenommen, den Kommentarbereich relativ streng zu moderieren, d.h. Kommentare sollen sich nicht allzu weit vom Thema des Beitrags entfernen. Im Impressum steht eine E-Mail-Adresse, die gerne für den nichtöffentlichen Kontakt genutzt werden kann.)
das würd´ich auch so machen, deshalb auch keine antwort auf die „verstecken“-frage.
ich wollte mich wirklich nur für den bericht bedanken, vor allem für die wunderschöne wortwahl. macht wirklich spaß, von jemandem zu lesen, der mit unsrer sprache umzugehen weiss, vor allem weil´s so selten ist…