Für viele Wanderer, auch für mich, ist die Verringerung des Tragegewichts ein wichtiges Ausrüstungsthema. Mit weniger Gewicht wandert es sich angenehmer. Man ersetzt also, wenn es möglich ist, schwerere durch leichtere Ausrüstungsgegenstände, lässt Überflüssiges weg und sucht nach Gegenständen, die einen Mehrfachnutzen haben. Man benutzt eine grammgenaue Waage und wiegt und rechnet.
Das alles ist in mancher Hinsicht sinnvoll, aber die These dieses Beitrags ist, dass es in der Theorie des Ultraleichtwanderns und in ihrer praktischen Umsetzung ein erklärungsbedürftiges Ungleichgewicht gibt, nämlich einen unzweckmäßigen Vorrang einer physikalisch-technischen vor einer ergonomischen Betrachtungsweise.
Der Zweck aller Bemühungen ist ja eine Entlastung des Körpers beim Gehen und Tragen. Dazu müssen normalerweise nicht nur Gegenstände gewogen, sondern auch ergonomische und biomechanische Überlegungen angestellt werden. Sporadisch geschieht das zum Beispiel, wenn erläutert wird, wie ein Rucksack gepackt werden sollte, um seinen Schwerpunkt möglichst nah an die Wirbelsäule zu bringen und die auftretenden Hebelkräfte zu verringern. Aber schon eine plausible (z.B. grafische) Darstellung dieser Hebelkräfte und der Lastverteilung auf verschiedene Muskelgruppen findet man im Internet nicht ohne Weiteres. Das anatomische, biomechanische und ergonomische Wissen bleibt vage und beschränkt sich auf Allgemeinplätze – etwa den, dass beim Rucksack auf eine effektive Lastübertragung auf die Hüfte zu achten sei und dass die Wanderschuhe möglichst leicht sein sollten, weil sie bei jedem Schritt angehoben werden müssen.
Das Beispiel der Wanderschuhe macht das Problem womöglich noch deutlicher als das Beispiel des Rucksacks. Denn dass der Schuh bei jedem Schritt zusammen mit dem Fuß angehoben wird, ist zwar zutreffend. Aber Wanderschuhe sind eben in der Regel so gebaut, dass sie die Abrollbewegung des Fußes zugleich unterstützen und modifizieren, also in einen komplizierten biomechanischen Vorgang eingreifen, dessen Ablauf uns kaum bewusst ist, weil wir uns im Alltag nicht wirklich damit auseinandersetzen müssen. Gehen ist einfach Routine; deshalb verstehen wir es nicht im Detail.
Je nach individueller Disposition und Gewohnheit kann nun der Entlastungsvorteil, der sich für den Bewegungsapparat aus dem Aufbau eines Wanderstiefels ergibt, den Gewichtsnachteil bei Weitem überwiegen. Es kann also sein (auch wenn es nicht bei jedem Wanderer so ist), dass der schwerere Wanderstiefel das Wandern weniger anstrengend macht, obwohl sein Gewicht bei jedem Schritt gehoben werden muss. Auch kann es sein, dass sich der gut eingelaufene Stiefel leichter anfühlt als der frisch gekaufte. Und auch bei einem Rucksack kann sich das gleiche Gewicht real leichter anfühlen als bei einem anderen, wenn das sogenannte Tragesystem seinen geheimnisvollen Zweck erfüllt, die Last optimal zu positionieren und zu verteilen. Hier handelt es sich nicht um subjektive Einbildungen, sondern das gefühlte Gewicht gibt Auskunft über die reale ergonomische Belastung.
Physikalisch muss natürlich das Gewicht in jedem Fall gehoben und getragen werden. Aber wie gut dem Körper das gelingt, ist keine allein physikalische Frage. Die ergonomische Optimierung – das kann man vielleicht auch ohne Spezialkenntnisse sagen –, zielt darauf ab, die auf den Körper einwirkenden Kräfte so zu verteilen, dass alle belasteten Komponenten (insbesondere die beteiligten Muskelgruppen) in dem Lastbereich arbeiten, in dem sie ›gerne arbeiten‹, für den sie also ausgelegt und trainiert sind oder an den sie sich kurzfristig gewöhnen können. Schmerzen und womöglich Verletzungen entstehen grundsätzlich dann, wenn Teile des Bewegungs- und Stabilisierungsapparats (zum Beispiel bestimmte Bereiche der Skelettmuskulatur) überlastet, d.h. über dieses Maß hinaus beansprucht werden. Eine solche Überlastung kann in der Praxis auch dann schon eintreten, wenn man bei einer Tageswanderung den leichten Rucksack asymmetrisch beladen hat, so dass ›irgendwo im Rücken irgendwelche Muskeln‹ eine permanente Ausgleichsarbeit leisten müssen.
Und leider ist es so, dass wir über unsere Anatomie und über die biomechanischen Details unseres Bewegungs- und Haltungsapparats meistens sehr viel weniger wissen als etwa über die beweglichen Teile unseres Fahrrades. Wir sind also in einem Wissensbereich, der für unser Wohlbefinden beim Wandern entscheidend ist, auf die erwähnten Gemeinplätze und aufs Ausprobieren verwiesen. Oder genauer gesagt: Wir begnügen uns in diesem Bereich mit einem unzureichenden, ungefähren Wissen, während wir zugleich das physikalische Gewicht unserer Ausrüstungsgegenstände grammgenau bestimmen.
Diese Disproportion der Thematisierungsweise und des Wissens ist als solche erstaunlich, und noch erstaunlicher ist, dass sie in den Diskussionen der Ultralight-Szene, soweit ich das erkennen kann, nicht in Frage gestellt wird. Man geht sozusagen davon aus, dass die Last, die man spürt, proportional zu dem Wert ist, den die Waage anzeigt, und dass deshalb der Ansatzpunkt jeder praktischen Umsetzung der Ultraleicht-Philosophie das physikalische Gewicht der Ausrüstung ist. Das muss nicht unbedingt bedeuten, dass es kein implizites Wissen um ergonomische Wirkungen und Gesetzmäßigkeiten gäbe. Aber dieses Wissen bleibt eben implizit und ist nur selten Gegenstand einer Diskussion oder einer Explikationsbemühung.
Um sich dieses Ungleichgewicht provisorisch zu erklären, muss man vielleicht die Struktur unseres Bildungswissens betrachten. Weil wir in einer technisierten Welt leben, erwerben wir technisch-physikalische Kenntnisse und wenden sie täglich an. Das Verstehen des eigenen Körpers oder des ›Leibes‹ und seines Zusammenspiels mit der physikalischen Welt erfordert aber andere Konzepte, die zwar zur Physik nicht im Widerspruch stehen, aber auch nicht bruchlos aus ihr hervorgehen. Und weil wir nicht in derselben Weise an unserem Körper arbeiten können wie wir es an einem Fahrrad können, sind wir geneigt, die Entwicklung und Handhabung dieser Konzepte und dieses Wissens zum Beispiel medizinischen Spezialisten zu überlassen.
Man muss diese Überlegung nicht unbedingt kulturkritisch auffassen. Das Verstehen des eigenen Körpers nach Maßgabe eines alltagstauglichen wissenschaftlichen Konzepts wird ohnehin objektiv dadurch erschwert, dass wir unseren Körper in erster Linie fühlen und ihn deshalb gar nicht ohne besondere Distanzierungsleistung zum Objekt einer ›wissenschaftlichen‹ Betrachtung machen können. Das heißt: Wir haben Rückenschmerzen, aber dieser Schmerz als solcher informiert uns nur darüber, dass etwas nicht stimmt. Er sagt uns nicht, dass ein bestimmter Bereich der Skelettmuskulatur überlastet ist und wie es konkret dazu gekommen ist. Wir spüren unsere Schritte, können aber selbst nicht beschreiben, wie wir dabei ›abrollen‹. Diese eigentlich unproblematische Direktheit unseres Verhältnisses zu unserem eigenen Körper verführt uns gelegentlich dazu, das leibbezogene Wissen insgesamt für ›mehr oder weniger subjektiv‹ zu halten und uns ins Physikalische als einen vermeintlich objektiveren Wissensbereich zu flüchten, der die unmittelbare Manipulation der Gegenstandswelt anhand relativ einfacher, immer gültiger Gesetzmäßigkeiten erlaubt. Rucksäcke sind dann einfach unterschiedlich schwer, und die Anstrengung des Gehens besteht sozusagen im Hochheben eines Stiefels, dessen Gewicht wir dem Produktkatalog entnehmen können.
Und vielleicht weiß es unser Körper ja zu schätzen, wenn wir ihn wenigstens physikalisch entlasten – auch wenn wir ihn dabei nicht wirklich verstehen.
Hallo Norbert,
ich musste da jetzt zweimal drüberlesen und bin mir immer noch nicht ganz schlüssig, was Du mit dem Artikel zum Ausdruck bringen möchtest.
aber die These dieses Beitrags ist, dass es in der Theorie des Ultraleichtwanderns und in ihrer praktischen Umsetzung ein erklärungsbedürftiges Ungleichgewicht gibt, nämlich einen unzweckmäßigen Vorrang einer physikalisch-technischen vor einer ergonomischen Betrachtungsweise.
Das sehe ich ganz und gar nicht so und ich finde das erklärungsbedürftig.
Der ergonomische Aspekt wird z.B. in „Lighweight Backpacking und Camping“ von Ryan Jordan (ein Muss für alle, die sich ernsthafter mit UL beschäftigen) in einem eigenen Kapitel besprochen. Allerdings natürlich auch nur von physikalisch-technischer Seite.
Ergonomie wie von Dir als subjektives Gefühl beschrieben wird aber bei Ultraleicht-Trekkern wie Schwergewichts-Trekkern in der Regel mit dem Satz „Der Rucksack/Schuh muss Dir passen“. Wie willst Du denn auch dieses subjektive Gefühl, dass ja für jeden anders sein muss auch verallgemeinern? Das geht dann eben nur mit den harten Fakten wie z.B. Gewicht, was aber nicht bedeutet, dass subjektive Faktoren eine kleinere Rolle spielen.
Auch aus eigener praktischer Erfahrung kann ich sagen, dass mir persönlich absolut bewusst ist ab wann z.B. ein von mir gewählter UL-Rucksack ergonomisch also gefühlt keinen Sinn mehr macht und ein schwererer Rucksack vorzuziehen ist.
Ein Großteil Deiner Ausführungen kann man übrigens 1 zu 1 auch für schwere Ausrüstung anführen, was es mir schwer macht Deine eigentliche Botschaft zu verstehen.
Ein bequem sitzender und dem Träger passender Ultraleichtrucksack, der in der Ladung seine Komfortgrenze nicht überschreitet und richtig gepackt ist, ist einfach ein Traum. Der gleiche Rucksack kann selbstverständlich eine Katastrophe sein, wenn die einflussnehmenden Variablen nicht günstig sind.
Jetzt habe ich auch viel zu lang wirr vor mir hin geschrieben.
Vielleicht hilft es mir vom Verständnis, wenn Du den Kern Deines Beitrages einfach nochmal kürzer und prägnanter herausarbeitest. Geht das?
Gruß
Carsten
Hallo Carsten,
vielen Dank für den allerersten Kommentar in diesem Blog:-)
In einem Punkt gebe ich Dir sofort recht: »Ein Großteil Deiner Ausführungen kann man […] 1 zu 1 auch für schwere Ausrüstung anführen […]«. Ich habe auch beim Schreiben schon überlegt, ob das nicht ein Mangel der Argumentation ist; man hätte dasselbe Thema auch ansprechen können, ohne sich dabei auf das Ultraleichtwandern zu beziehen.
Aber was ich gemeint habe, ist doch Folgendes (und das wäre dann zugleich die gewünschte Zusammenfassung):
Wenn die Erleichterung des Tragens das Ziel ist, müsste man eigentlich in die medizinische Ergonomie des Rucksacktragens genauso viel Denkarbeit investieren wie in die Reduzierung des messbaren Ausrüstungsgewichts. Das geschieht aber nicht.
Der Verweis auf das Ausprobieren und das ›Passen‹ des Rucksacks oder der Schuhe wäre mir hier einfach zu wenig. Ich möchte gerne wissen, welche Muskeln da tätig sind, um die Wirbelsäule in einer bestimmten Position zu halten; ich möchte mal eine wissenschaftlich adäquate Darstellung der beim Tragen von Lasten wirksamen Kräfte sehen, oder analog bei den Schuhen eine Darstellung der Belastungs- oder Leistungsverteilung auf die verschiedenen Beinmuskeln (möglichst bei verschiedenen Schuhtypen).
Man könnte sich beim Rucksack zum Beispiel auch ganz grundsätzlich fragen, wie zum Beispiel ein Hohlkreuz sich auf das Kräfteparallelogramm auswirkt oder was das Vorhandensein eines Bierbauches für die Lastübertragung des Hüftgurtes bedeutet. Mit anderen Worten: Wie wirken Anatomie und Physik in der Ergonomie zusammen? Das sind doch Fragen, über die sich mit einiger medizinischer bzw. orthopädischer Kompetenz etwas Detailliertes und zugleich Allgemeines sagen ließe, was vielleicht auch von praktischer Bedeutung wäre. (Mir fällt z.B. bei mir selbst auf, dass ich – bei fast normalem Körperbau und nur leichtem Hohlkreuz – meine Rucksäcke bis 12 kg Tragegewicht lieber ganz ohne Hüftgurt trage. Ich finde das sozusagen bequemer. Das muss irgendwelche Ursachen im Zusammenspiel meiner Anatomie mit meinen Rucksäcken haben – aber im Netz finde ich nichts Instruktives zu diesem Thema. Stattdessen immer wieder nur die pauschale Behauptung, beim Rucksacktragen komme es auf eine wirksame Lastübertragung auf die Hüfte an.)
Vielleicht hätte ich nicht schreiben sollen, dass dergleichen in der Theorie des Ultraleichtwanderns vernachlässigt wird. Genauer müsste ich sagen: Ich habe bei dem kleinen Ausschnitt der praktischen und theoretischen UL-Debatten, den ich kenne, das Gefühl, dass in der praktischen Umsetzung der Theorie die medizinisch-orthopädische Betrachtungsweise im Vergleich zum Wiegen von Ausrüstungsgegenständen eine zu geringe Rolle spielt.
Es ist ein bisschen so, als gäbe es in den einschlägigen Foren zwar viele Physiker und Werkstofftechniker, aber keine Mediziner und Orthopäden. Deshalb wird dann über einige Themen sehr wissenschaftlich geredet, während andere Aspekte, die eigentlich auch einer wissenschaftlichen Behandlung zugänglich wären, als bloß subjektiv behandelt werden. Das Hohlkreuz, um bei diesem Beispiel zu bleiben, ist keine rein subjektiv-individuelle, sondern eine verbreitete anatomische Abweichung vom Idealkörper. Um zu beschreiben, wie sie sich beim Rucksacktragen typischerweise auswirkt und wie man praktisch damit umgehen könnte, würde man ein allgemeines Beschreibungsmodell benötigen, das von der Anatomie ausgeht und die Kraftwirkungen bei verschiedenen anatomischen Varianten (und verschiedenen Rucksackformen und Trageweisen) zutreffend erfasst. Ein solches Beschreibungsmodell wäre keine Zauberei, sondern wäre medizinisch durchaus möglich, auch in allgemeinverständlicher Form. Aber ein solches Beschreibungsmodell haben wir derzeit nicht. Deshalb können wir über das Rucksacktragen einerseits nur in Allgemeinplätzen reden (die für einen Idealkörper gelten) und sind andererseits bei uns selbst ganz auf ›Versuch und Irrtum‹ angewiesen. Das führt irgendwann auch zu praktischen Ergebnissen, ich finde es aber unter Verständnisgesichtspunkten unbefriedigend.
Moin!
Mich wundert, wie ja auch schon von Carsten angesprochen, dass du deine Beobachtungen gerade der UL-Szene zum Vorwurf machst. Denn nach meinem Eindruck wird gerade auch den biomechanischen Fragestellungen dort mehr Raum eingeräumt als üblich. Das zeigen gerade die von dir gewählten Beispiele des Hüftgurts und der Schuhe. Denn die Aussage, „dass beim Rucksack auf eine effektive Lastübertragung auf die Hüfte zu achten sei“, dürfte tatsächlich bei traditionellen Wanderern auf sehr viel höhere Zustimmung stoßen als bei ultraleichten. Bereits bei Ray Jardine, der ja häufig als einer der Begründer der UL-Bewegung gesehen wird, finden sich umfangreiche Überlegungen zum (Un-)Sinn eines Hüftgurts und einer Lastübertragung auf die Hüfte aus biomechanischer Sicht wegen der Hüftrotation. Das Buch von Ryan Jordan hat Carsten ja bereits angesprochen.
Auch in der Frage der Schuhe sind es aus meiner Sicht gerade die Ultraleichten, die sich mit den Anforderungen an einen Schuh auseinandersetzen und nicht, wie teilweise leider im ODS, den festen (Leder-)Stiefel für jede Tour zur Pflicht erheben. Stattdessen finden sich bei den Ultraleichten Überlegungen zu der Erforderlichkeit von Stützung und Unterstützung durch den Schuh und auch Überlegungen dazu, ob und inwieweit ein gesunder Fuß dergleichen überhaupt bedarf.
In beiden Punkten bin ich gleichwohl insoweit bei dir, als das Wissen um die Biomechanik nicht besonders ausgeprägt ist. Das scheint mir jedoch ein allgemeines Problem zu sein, da hier vielfach – nach meinen Beobachtungen auch über die hier diskutierten Kreise hinaus und in der Fachöffentlichkeit – kein tragfähiger Konsens über die biomechanischen Zusammenhänge und Abläufe besteht. Gerade auch was Orthopäden anbelangt, bin ich in den letzten Jahren hier sehr skeptisch geworden. Die umfangreiche Debatte über das Barfußgehen und -laufen, die damit verbundenen Risiken und Vorteile, aber auch die scheinbar banale Frage nach der biomechanisch empfehlenswerten Technik des Fußaufsatzes beim Gehen und Laufen füllt inzwischen Bände und offenbart dem kritischen Beobachter immer wieder ein gewaltiges Defizit im Wissen und in der Studienlage. Auch die Probleme der Robotik mit dem Zweibeinergang weisen auf Verständnisdefizite in diesem Bereich hin.
Wo es aber kein gesichertes Wissen gibt (unterstellt, dass es dergleichen überhaupt geben kann), kann dieses auch nicht genutzt werden. Die Lücke wird dann mit Hilfe anekdotischer Evidenz oder vermittels Beweislastfragen geschlossen. Letzteres kann dann am Beispiel der Schuhe entweder anhand des evolutionsbiologischen Ansatzpunktes geschehen, dass Homo sapiens jahrtausendelang ohne Schuhe mit Stützung des Sprunggelenks sowie des Fußgewölbes gut auskam und es keine tragfähigen Belege dafür gibt, dass Sprengung und Stützung beim gesunden Fuß einen Vorteil bringen. Oder man nimmt die jüngere menschliche Vergangenheit zum Ausgangspunkt, in der sich der Wanderstiefel jedenfalls in der westlichen Welt weitgehend etabliert hat, und verweist darauf, dass es an Beweisen dafür fehlt, dass weniger massives Schuhwerk gleichermaßen sicher ist oder ein Zusammenhang zwischen dem Tragen festen Schuhwerks und der Degeneration der Füße besteht. Welcher Argumentation wäre hier der Vorrang zu geben?
Solange es an allgemein anerkannten Beschreibungsmodellen für einfachste menschliche Bewegungen (selbst eines Idealkörpers) fehlt, erscheinen mir Versuch und Irrtum sowie die Orientierung an physikalischen Grundsätzen ein plausibler Behelfsweg.
Hallo Sompio,
danke für diesen ›Idealkommentar‹, der mich in mindestens zwei Punkten weiterbringt.
Zum einen wusste ich nicht, dass die Hüftgurtfrage z.B. bei Jardine tatsächlich kritisch diskutiert wird. Im deutschsprachigen Internet finde ich diese Problematisierung mit meinen Suchbegriffen nicht wieder; deshalb bin ich davon ausgegangen, dass die Frage überhaupt nicht diskutiert wird.
Zum anderen entnehme ich Deinem Beitrag, dass die medizinisch-orthopädische Modellbildung bei weitem nicht so einfach ist, wie ich sie mir vorstelle. Das würde dann das diagnostizierte Ungleichgewicht in der Diskussion allerdings erklären.
Dass den biomechanischen Fragestellungen in der UL-Szene mehr Raum gegeben wird als üblich, glaube ich. Insofern erhebe ich auch nicht den Vorwurf, dass das Thema ignoriert wird, sondern sage nur: Wenn Erleichterung das Ziel ist, sollte eigentlich auf dieser Ebene mehr diskutiert werden und mehr ›herauskommen‹. Die UL-Diskussion ist einfach das Umfeld, in dem sich dieses Thema rhetorisch oder darstellungsmäßig am ehesten entfalten lässt, gerade weil es hier thematisch schon ›in der Luft liegt‹.
Was die ›Anthropologie des Schuhwerks‹ angeht, bin ich selbst ganz leidenschaftslos, finde aber jedenfalls Deine Darstellung der Problematik und des Diskussionsstandes sehr einleuchtend. Ich neige zu der Ansicht, dass der Mensch als Naturwesen hier einfach verschiedenen Akkomodationspfaden (im Sinne einer Anpassung an seine sonstige Lebensweise) folgen kann, die mit verschiedenen Vor- und Nachteilen behaftet sind. Beim derzeitigen Stand würde ich meine Wanderetappen nicht ohne Sprengung, Dämpfung und Stützung bewältigen, bilde mir aber nicht ein, dass das etwas schlechthin ›Natürliches‹ ist. Da ich Stiefel außerdem ›schön‹ finde, habe ich persönlich kein Motiv, mich nach etwas anderem umzusehen, erkenne aber an, dass sich das für andere Wanderer völlig anders darstellen kann.
🙂
Ich bins wieder 🙂
Danke für die ausführliche Antwort. Letztlich bleiben einem aber auch die Schwergewichtstrekker die von Dir gewünschten medizinisch-ergonomischen Daten schuldig.
Zumindest ist mir im Bereich Rucksack und Rucksackgewicht nichts bekannt.
Man muss an dieser Stelle auch einfach mal sagen, dass Leute, die leicht unterwegs sind, im Vergleich zu den Schwergewichtstrekkern zahlenmässig stark unterlegen sind. Der Markt für Ultraleichtware ist überschaubar und da investiert niemand in Studien zu dem Thema. Wäre natürlich toll, wenn sich jemand von der Sporthochschule Köln mal sowas anschaun würde.
Im Bereich Schuhe sieht es da gleich ein bisschen anders aus. Da gibts ne Menge Studien, die Sachen wie „Schützt ein Stiefel vor dem Umknicken“ oder „Wie wirkt sich ein Mehrgewicht am Fuß biomechanisch in der Energiebilanz aus“.
http://www.reddit.com/r/AdvancedBackpacking/comments/27ptbv/research_articles_from_ncbi_debunking_the_myth/
http://www.fjaderlatt.se/2009/11/weight-on-your-feet.html
Für mich persönlich bleibt am Ende dann genau das, was Du in Deinem Beitrag auch auf ähnliche Weise schreibst. Ich fühle mich im Vergleich zu einem schweren Rucksack mit einem leichten Rucksack wohler und empfinde auch den ergonomischen Aspekt als angenehmer.
Aus meiner Erfahrung passiert auch bei den UL-Heinis, die UL nicht als Selbstzweck sehen, sondern als Tool, um mehr Spaß draussen zu haben ungefähr folgendes:
1.)Man entdeckt UL
2.)Man speckt immer mehr und mehr Ausrüstungsgewicht ab.
3.)Gewicht ist das einzige was zählt.
4.)Erkenntnis, dass es am Ende des Tages „keinen“ Unterschied macht, ob das Basisgewicht bei 3 oder 6 Kilo liegt.
5.)Anhebung des Basisgewichtes auf ein individuelles Komfort/Gewichts-Optimum.
Die reine Fokusierung auf das Gewicht wie in Deinem Beitrag beschrieben, sehe ich in der Praxis nur in wenigen Fällen.
Trotzdem sehr schöner Gedankenaustausch hier 🙂
Carsten
Vielen Dank insbesondere für den zweiten Link. Der Artikel von Jörgen Johansson ist wirklich hochgradig informativ, weil er die wissenschaftlichen Befunde zu dem Thema ›physiologischer Energieaufwand und Gewicht des Schuhwerks‹ zusammenträgt und auch Angaben zum Untersuchungsdesign macht.
Wenn man das ganz grob zusammenfasst, kommt heraus, dass 100 g Mehrgewicht bei den Schuhen zu 1 % energetischem Mehraufwand führen. Diese Zahl halte ich für plausibel. Der übliche Vergleich mit dem energetischen Mehraufwand eines höheren Rucksacktragegewichts führt zu dem Ergebnis, dass das Mehrgewicht des Schuhwerks energetisch etwa die fünffache Wirkung desselben Mehrgewichts im Rucksack hat. Daraus müsste man normalerweise den praktischen Schluss ziehen, dass es sich bei den Schuhen noch sehr viel mehr lohnt, auf das Gewicht zu achten, als bei der sonstigen, im Rucksack getragenen Ausrüstung.
Dass ich selbst diesen praktischen Schluss nicht ziehe (aber nichts dagegen habe, wenn andere ihn ziehen), hat verschiedene Gründe.
(1) Ich vermute, dass der energetische Mehraufwand von der Wandergeschwindigkeit und vom Gelände abhängig ist. Bei mäßiger Geschwindigkeit auf relativ ebenem Untergrund wird ja der Fuß nur relativ gering angehoben und entfernt sich vor allem auch nicht weit vom Lot des Körperschwerpunktes, weil bei ›harmonischem Gehen‹ (anders als etwa beim Stechschritt, der hier sozusagen das Grenzmodell maximalen Energieaufwandes wäre) der Körperschwerpunkt während des Schrittes unmittelbar nachgeführt wird. Sobald man versucht, bewusst schneller zu gehen, macht man ausgreifendere Schritte, und dann wird das Gewicht der Schuhe überproportional wirksam. Man könnte also sagen: Wer rennen will, tut gut daran, Trailrunner zu tragen. Das ist keine Polemik. Wenn ich es darauf anlegen würde, meine Wandergeschwindigkeit nicht nur ein bisschen, sondern etwa von 4,5 auf 6 km/h zu steigern, würde ich diesen praktischen Schluss selbst auch ziehen.
(2) Ich komme – nach dem verlinkten Artikel auch unter quantitativen Gesichtspunkten – zu dem Ergebnis, dass Unterschiede in der Abrolldynamik die Gewichtseffekte überkompensieren können. Dieser Schluss beruht auf bestimmten praktischen Erfahrungen.
(a) Ich bin früher in der Stadt, also auf ebenem Untergrund, teils mit Chucks, teils mit Stiefeln unterwegs gewesen. In Berlin geht man ja viel und manchmal zügig zu Fuß. Dabei hat sich herausgestellt, dass ich jedenfalls mit meinen Füßen beim Gehen schneller vorankomme, wenn ich Stiefel trage, die das Abrollen durch den Sohlenaufbau und die ›Sprengung‹ zumindest ein bisschen unterstützen. Der Gewichtsvorteil der Chucks überwiegt erst, wenn man wirklich zum Bus rennen muss.
(b) Früher habe ich gelegentlich Tageswanderungen mit den 14-Loch-Alltagsstiefeln gemacht, meistens aber mit meinen damaligen Lowa Trekker. Abgesehen davon, dass bei ersteren Stiefeln nach etwa 12 km die Fußsohlen zu schmerzen beginnen, kann man auch den energetischen Unterschied abschätzen, indem man den Erschöpfungsgrad nach einer bestimmten Kilometerleistung vergleicht. Und in der Tendenz würde ich sagen, dass man mit den Wanderschuhen beim Wandern in ebenem Gelände 20-30 % Kraft gegenüber gleich schweren anderen Stiefeln spart. Die energetische Differenz, die sich allein aus der Bauweise und dem Abrollverhalten des Stiefels ergibt, ist also nach meiner Einschätzung größer als die, die sich nach den bei Johansson zitierten US-amerikanischen Untersuchungen aus dem Mehrgewicht des Stiefels gegenüber einem Leichtwanderschuh ergibt.
(3) Der Rest ist eine ästhetische Vorentscheidung. Ergonomisch spräche einiges für Leichtwanderschuhe oder Trailrunner, sofern sie eine ähnliche Dämpfung und Abrollunterstützung bieten wie die hohen Wanderstiefel, die ich jetzt zu tragen pflege. Aber ich werde keine Trailrunner zur Army-Hose tragen. (Dann nehme ich lieber 10 % energetischen Mehraufwand durch 1000 g schwerere Schuhe in Kauf, auch wenn das z.B. zu 10 % kürzeren Etappen führt. Der ideale zwiegenähte Igelstroem-Wanderschuh mit 24 cm Schafthöhe, relativ dünnem Lederfutter und dynamischem Abrollverhalten ist ja im Markt ohnehin nicht zu finden.)
Zu den anderen Punkten Deines Kommentars:
Ich finde meinen Rucksack mitunter immer noch zu schwer, sobald das Gesamtgewicht mit Wasser und Proviant über 10 kg steigt. Es ist dann einfach eine Befreiung, ihn in der Pause abzuwerfen und ohne ihn herumzulaufen. Insofern verstehe ich es schon, wenn Leute intensiv an der weiteren Reduktion arbeiten.
Das Basisgewicht liegt bei mir jetzt zwischen 6 und 7 kg, wenn ich richtig sehe (wobei ich das am Leibe getragene Gewicht, das ich im Alltag ebenfalls am Leibe trage, nicht mitrechne). Eventuelle Gewichtseinsparungen beim Schlafsystem würden inzwischen weitere Investitionen im dreistelligen Euro-Bereich erfordern, nur wenige hundert Gramm Einsparung bewirken und den praktischen Umgang mit der Ausrüstung nicht einfacher machen. Bei der Kleidung und beim Regenschutz gibt es Fortschritte, aber andererseits auch Grenzen durch die angedeuteten stilistischen Vorentscheidungen.
Gelegentlich fällt mir auf, dass es eher noch ein Einsparungspotential beim Verpflegungsmanagement gibt. Hier könnte man vielleicht (bei meinen Mehrtagestouren in besiedelten Gegenden) mindestens 500 g einsparen, wenn man auf doppelte Absicherung verzichtet.
An meinem Rucksack (der weder ultraleicht noch schwer ist), würde ich allerdings auch bei weiterer Reduktion des Inhalts festhalten. Ich war gestern bei Globetrotter und habe bei dieser Gelegenheit einige Rucksäcke mit Hüftgurt probegetragen (z.B. Deuter und Bergans). Das Ergebnis war (kurz gefasst), dass ich bei meiner Praxis bleiben werde, meinen Rucksack ohne Hüftgurt zu tragen und das Tragegewicht auch bei längeren Touren in der Nähe von 10 kg zu limitieren, durch welche Maßnahmen auch immer.
Hallo Igelstroem und Mitdiskutanten,
danke, das war interessanter Lesestoff. An dem Wort „erklärungsbedürftig“
(Zitat I. „…die These dieses Beitrags ist, dass es in der Theorie des Ultraleichtwanderns und in ihrer praktischen Umsetzung ein erklärungsbedürftiges Ungleichgewicht gibt, nämlich einen unzweckmäßigen Vorrang einer physikalisch-technischen vor einer ergonomischen Betrachtungsweise.“)
habe ich mich irgendwie festgefressen und mir gesagt „ja mensch, da hat er recht, wieso eigentlich??“. Zum Schluss gelang es mir, einen ebenso simplen wie eleganten Lösungsansatz zu finden (man möge mir das Selbstlob verzeihen): Es ist eine Sache der Statistik. Lasst mich das erklären.
In der Physik ist das kleinste, allgemein anerkannte Teilchen das Atom (nagelt mich nicht fest, das ist nur ein Vergleich). In der Internet-/Forenkultur gibt es das auch, bei UL und ODS und anderswo, nennen wir es Kleinstes Diskussionswürdiges Element KDE, aus dem sich im Grunde alle Diskussionen, Beratungen usw. zusammensetzen. Sein Kennzeichen ist, dass sich an ihm Reaktionen unterschiedlichster Art festmachen lassen.
Beispiele: Auf die Frage, welches Kanu soll ich für den Schwedenurlaub kaufen, antwortet einer: Das ist völlig egal, belege erst mal einen Paddelkurs. Die Frage enthält zwei KDEs (Kanu, Schwedenurlaub), die Antwort nur eins (Paddelkurs), es sei denn wir wollen nicht explizit erwähnte Faktoren mit einrechnen, dann kommen bei beiden noch ein paar KDEs dazu, etwa für Faulheit, Naivität (bei der Frage) und vielleicht schlechte Laune, Von-naiven-Fragen-genervt sein und ähnliches (bei der Antwort) dazu… aber das führt zu weit. Alle weiteren Beiträge in diesem Thread werden sich an einem oder mehreren der gelesenen (oder empfundenen) KDEs orientieren.
Weiteres Beispiel, hier haben wir ganz viele KDEs: Reisebericht per Fahrrad in zwei Jahren um die Welt, vier Seiten, 30 Fotos usw. Hier dürfte die Zahl der KDEs im vierstelligen Bereich liegen.
Klar soweit?
So und jetzt zurück zur Ausgangsfrage, wieso überwiegt die physikalisch-technische Betrachtungsweise die ergonomische? Nehmen wir einen x-beliebigen Thread zum Thema Ausrüstungsberatung für Rucksäcke. Die weitaus meisten, die hier etwa eine Anfrage kommentieren, bleiben im unteren zweistelligen KDE-Bereich: Es geht um Hüftgurte, Tragesysteme, Wasserfestigkeit des Stoffs, vielleicht Einkaufsquellen und ähnliches. Ergonomische Fragen werden kaum oder wenn, dann eher simplifiziert angesprochen: Muss dir passen, probiers aus usw. usf. Niemand sagt: Wenn du einen Hohlrücken und vergleichsweise kurze Beine hast, empfehle ich dir Marke XY, Model YZ.
Wieso?
Aus statistischen Gründen. Gehen wir davon aus, ein Idealfall, der Diskutant spricht nur über Faktoren (KDEs!), von denen er zumindest ein bisschen was versteht, im Falle eines Rucksacks mögen das zwanzig oder dreißig sein, das ist überschaubar. Kein Problem, hier etwas beizutragen.
Anders sieht es mit ergonomischen Aspekten aus, also alle, die den Körper betreffen. Hier haben wir, na sagen wir 100 Knochen, 200 Sehnen, 400 Muskelgruppen, von denen viele auch untereinander in Aktion treten können und so die Gesamtzahl der KDEs nicht nur vervielfachen, sondern potenzieren. Der menschliche Körper, Bezugspunkt jeglicher Ergonomie, ein komplexes Wunderwerk!
Ihr seht, auf was das hinausläuft… und ich denke, wir nähern uns hier einer möglichen Antwort auf die eingangs gestellte Frage:
Physikalisch-technische Fragen/Antworten/Diskussionen bewegen sich naturgemäß im einstelligen bis allenfalls mittleren zweistelligen KDE-Bereich. Sobald es aber an die Ergonomie geht, wird entweder: gnadenlos simplifiziert („Musst du probieren“ = 1KDE, hinter dem sich aber 10.000 KDEs verstecken), oder gleich geschwiegen, oder nur von einer ganz, ganz kleinen Gruppe von Menschen geantwortet, die sich trauen und fähig sind, ein wenig weiter in die KDE-Tiefen des menschlichen Körpers einzutauchen. Denn wer kennt sich da nun wirklich gut aus? Spezialisierte Ärzte, Therapeuten, so was? Wieviele finden sich wohl in einem Forum, UL oder ODS?
Eben.
Vermutlich lässt sich die hier skizzierte These anders und wesentlich eleganter darstellen, aber mein Ziel ist erreicht, wenn nur einer der Diskutanten hier murmelt „hm, KDEs, gewaltige Zahl der Informationseinheiten, Strukturen in Internetforen, hm muss mal drüber nachdenken…“ 😉
Grüße und schönen Restsonntag,
Ronald
Hallo Ronald,
die KDE-Theorie hat einen gewissen Charme. Ich fürchte allerdings, dass diese KDEs nicht einfach Atome sind, die sich in dem Container eines Themas aufhalten, sondern eher kleine fiese Monster, die in der Diskussion miteinander interagieren und dabei neue kleine fiese Monster gebären, die ursprünglich nicht da waren und eigentlich auch nicht dazugehören. Nach zwei ›Generationen‹, d.h. nach zwei Diskussionsschritten ist man dann leicht bei einem anderen Thema …
Folgendes zum Hauptthema des Blog-Beitrags (ausgehend von dem Komplexitätsproblem, das mit Deiner ›KDE-Theorie‹ angesprochen wird):
›Lebende Systeme‹ sind von vornherein komplexer aufgebaut als physikalische Systeme, so dass es z.B. immer noch einfacher (obwohl schon schwierig genug) ist, die Feuchtigkeitsaufnahme eines Daunenschlafsacks während einer mehrtägigen Tour zu prognostizieren, als vorauszusagen, ob der Schläfer bei bestimmter Außentemperatur in einer bestimmten Nacht frieren wird oder nicht – denn das ist außer von den physikalischen Bedingungen auch noch von physiologischen Regulationsvorgängen abhängig. Man hat es also hier wie bei der Anatomie des Rucksacktragens mit einer Blackbox-Situation zu tun: Zwar handelt es sich um Naturvorgänge und nicht um geheimnisvolle dunkle Kräfte, beobachtbar ist aber nur das Ergebnis (der Proband friert, findet den Rucksack unbequem, hat Schmerzen im Nackenbereich). Das würde vielleicht ausreichen, um an dieser Stelle gewissermaßen erkenntnistheoretisch zu resignieren und zu sagen: Okay, wiege deine Ausrüstung; den Rest musst Du ausprobieren.
Für den Einzelnen ist diese ›Resignation vor der Komplexität‹ häufig ein Ausdruck von gesundem Menschenverstand. Allerdings bin ich ja nicht nur Philosoph, sondern auch Ex-Meteorologe; deshalb fasziniert mich der Versuch, komplexe Prozesse zumindest teilweise zu parametrisieren, wie es etwa geschieht, wenn man den physiologischen Energieaufwand beim Gehen mit bestimmten Schuhen oder mit bestimmten Tragegewichten zu messen versucht. Irgendwo im Internet habe ich gelesen, dass im Prinzip der Tragebalken die energetisch günstigste Art ist, eine Last zu transportieren; der Rucksack folgt dann an zweiter Stelle, und die auftretenden Hebelkräfte an der Wirbelsäule lassen sich im Prinzip quantifizieren, wenn man die Schwerpunktlage des Rucksacks und die Anatomie der Skelettmuskulatur zutreffend modelliert. Betrachtungen dieser Art finde ich äußerst interessant.
Nun kommt es in den Diskussionen bei ODS und im UL-Forum nach meiner Beobachtung äußerst selten vor, dass sich jemand erklärtermaßen als Orthopäde, Krankengymnast, Physiotherapeut oder Fitnesstrainer in die Diskussion einschaltet. Viel häufiger hat man das Gefühl, die Diskussionsteilnehmer seien Physiker, Ingenieure und Werkstofftechniker. Dabei könnte man ja denken, ›outdoor‹ müssten ebenso viele Physiotherapeuten wie Werkstofftechniker unterwegs sein. Das verbleibende Rätsel (auch wenn man das Komplexitätsproblem oder das höhere KDE-Niveau der Themen berücksichtigt) ist also gewissermaßen, wieso die im weitesten Sinne medizinischen Berufe sich nicht mit derselben Ich-weiß-doch-bescheid-Mentalität in die Outdoor-Diskussionen einbringen, wie die Techniker es manchmal tun. Denn auch wenn das Selbstüberhebung wäre, würde man doch als Laie öfter mal etwas daraus lernen können, genauso wie man von den Technikern allmählich etwas lernt.
Die Frage zum Beispiel, wie sinnvoll die Lastübertragung auf die Hüfte bei Tragegewichten unter 10-12 kg noch ist und ob es hier nicht einfach auch alternative Adaptionspfade gibt (d.h. man kann sich unter bestimmten technischen und anatomischen Voraussetzungen an ein hüftfreies Tragesystem vollkommen gewöhnen und handelt sich damit bestimmte Vorteile ein), würde ich gerne mal in allgemeiner Form diskutieren. Dafür wäre aber außer der eigenen Erfahrung auch die Erfahrung anderer und eine gewisse technische und orthopädische Kompetenz vonnöten, damit wirklich so etwas wie eine qualifizierte, nicht bloß anekdotische Gegenposition gegenüber der Standarddoktrin der Lastübertragung auf die Hüfte formuliert werden kann. Das soll – wenn man es jetzt als Beispiel versteht – heißen: Die Erzeugung von ernsthaftem ›Content‹ in Outdoor-Diskussionen erfordert, dass vorhandene Fachkompetenzen sich auch wirklich unerschrocken als Fachkompetenzen artikulieren.
Hallo,
Gedanken zu diesem Thema (und indirekt auch zu einem anderen Beitrag (http://wandern-denken.de/2015/06/merino-kratzt-nicht-und-mein-arbeitsplatz-ist-mein-kampfplatz-fuer-den-frieden/#more-249) auf diesen Seiten:
a) Blinde Flecken/Tabus/Mantras der UL-Diskussion
Zusätzlich bzw. überlagernd zu den von Carsten beschriebenen Phasen des durchschnittlichen UL-Heinis gibt es (meiner Vermutung nach) auch noch viele, die die Ideen aus der UL-Szene/Philosophie nutzen um leichter zu wandern, aber relativ schnell oder von vorneherein beschließen, niemals wirklich UL zu werden. Dass man von deren Überlegungen nicht so viel mitbekommt, wie von denen der Hardcore-UL-Typen, liegt m.E. in der Dynamik von Foren (bzw. genauer: dem deutschen Trekking-UL-Forum) begründet. Wenn dort jemand bekannt gibt, dass und warum er sich bei einem bestimmten Ausrüstungsteil nicht für die leichteste Möglichkeit entschieden hat, wird schnell mit den Mantras dieser Philosophie bzw. dieses Forums beantwortet: Schere im Kopf, You pack your fears, … bis hin zum quasi Äußerungsverbot solcher Gedanken, indem ihnen Forums-Off-Topic attestiert wird. Ich kann mir vorstellen, dass viele ihre „L but not UL“-Gedanken dann dort nicht mehr äußern. Ich jedenfalls handhabe das so.
b) Funktionale Anatomie
Das von Dir vermisste Sachgebiet, sowohl für die Schuh- als auch die Rucksackthematik (und überhaupt für viele Alltags- und Sportfragestellungen/-probleme) ist m.E. die Funktionale Anatomie. Durch Beschäftigung mit dieser Disziplin kann man lernen, wann welche Muskeln welche Arbeit verrichten, wie sie dabei mit anderen Muskeln zusammenarbeiten, welche Gelenkwinkel funktional (d.h. günstig für die Funktion der Muskeln) sind etc. Man kann daraus auch lernen, wieso so viele Menschen ein Hohlkreuz haben und wie man das wegtrainieren könnte und worin der Unterschied zwischen Gehen und Laufen besteht (und warum Du in Stiefeln lieber gehst und in Chucks lieber läufst).
Es fällt einem dann aber auch auf (Vorsicht: polemische These von mir), dass der durchschnittliche Orthopäde auf diesem Gebiet nicht so bewandert bzw. in dieser Betrachtungsweise nicht so geübt ist, während gute Physiotherapeuten da gewinnbringende Austauschpartner sind.
c) Stiefel und ihr Schutz
Der Umknickschutz durch über den Knöchel gehende Lederstiefel ist sicher eines der Mantras, die Du in Deinem anderen Artikel beklagst. Aber wie m.E. oft der Fall verdekct der Streit um dieses Mantra einen anderen Aspekt, der dann gar nicht oder kaum diskutiert wird: In diesem Fall die Frage, wie wichtig der Schutz vor Schlag oder Stoß von Steinen an/gegen Knöchel ist.
d) Stiefel und Gang
Für die Tatsache, dass Du in Chucks zwar gut laufen kannst, für ein kräftiges Ausschreiten auf Asphalt/Gehwegplatten aber Trekkingstiefel bevorzugst, führe ich mal das unterschiedliche Gangbild dieser beiden Bewegungen an. Beim Gehen setzt Du den Fuß vermutlich deutlich vor dem Körper und dann logischerweise mit der Ferse auf; da vermeidet gerade auf hartem städtischen Untergrund eine Dämpfung Schmerzen durch Stoß. Beim Laufen setzt Du den Fuß vermutlich eher unter dem Körper und dann mit dem Mittelfuß auf und bedarfst der Dämpfung nicht. (Hinzu kommt, dass ein Stiefel die fürs Laufen notwendige Beweglichkeit des Fußgelenks einschränkt, was zumindest als unangenehm empfunden wird.)
e) Rucksäcke und Lastverteilung/Ergonomie
Dass das Mantra „Lastübertragung auf Hüfte“ von der UL-Bewegung gleich als eines der ersten verworfen wurde, darauf wurde schon hingewiesen. Dass es unter dem Gesichtspunkt der Lastverteilung/Hebelkräfte sinnvoll sein könnte, Gewicht auch vor dem Körper zu tragen (und nicht nur hinten), wird m.E. relativ wenig diskutiert. (Es gibt dazu allerdings einen sehr interessanten Faden im UL-Forum, wo jemand mit selbstgebauten westenartigen Lösungen experimentiert.) Ich bin jedenfalls bei Rucksäcken aus der Ultra-Lauf-Szene gelandet, weil ich dort einen der schwersten zu tragenden Teile, nämlich das Wasser, vorne trage. Hinzu kommt der Aspekt der unkomplizierten Erreichbarkeit und das Trinken/Auffüllen der Flaschen, ohne den Rucksack (teil)absetzen zu müssen. Damit sind wir auch bei einem Argument der Ergonomie.
Wie sagt man, nachdem man eine halbe Stunde an seinen Einlassungen gewerkelt hat, aber dennoch das Gefühl hat sie seien nicht hinreichend, um seine Angreifbarkeit zu reduzieren, indem man sie sogleich diminuiert: Just my twenty pence …
Gruß
stoeps
Zu a) und e):
In der Tat lese ich manchmal etwas im Ultraleicht-Forum, habe mich aber (ungefähr aus den von Dir genannten Gründen) gar nicht erst angemeldet.
Den Thread, den Du wohl meinst (Rucksack – ein Muss? unter der Philosophie-Rubrik des Forums), kenne ich auch.
Bei meinen eigenen Experimenten zur Umverteilung der Traglast ist bisher Folgendes aufgefallen:
(1) Ein auf der Vorderseite angebrachtes Gegengewicht zum Rucksack kann sehr angenehm sein; allerdings muss der Angriffspunkt der Hebelkraft an der Wirbelsäule derselbe sein wie der des Rucksacks. Das ist zum Beispiel gegeben, wenn man vorn am Rucksackträger Lasten befestigen kann. Allerdings haben diese Lasten ja auch ein gewisses Volumen und befinden sich dann eventuell in der Nähe des Kinns, was ungewohnt ist und komisch aussieht. Ferner muss die vordere Last unbedingt (rechts und links) symmetrisch sein, d.h. man könnte z.B. zwei Wasserflaschen montieren, die man dann aber gleichmäßig austrinken muss. Gegen diese Variante spricht in meinem besonderen Fall aber auch noch, dass ich meinen Rucksack (Berghaus Centurio) in den Pausen auf den Boden lege und als Sitz verwende. Das wird wahrscheinlich schwierig, wenn an den Schulterträgern vorn Taschen befestigt sind.
(2) Eine Tasche auf der Vorderseite in der Art eines zweiten, leichteren Rucksacks, wie man es manchmal bei überladenen Backpackern sieht, ist zwar ergonomisch auch nicht falsch, würde aber unter sommerlichen Bedingungen dazu führen, dass man sowohl vorn als auch hinten schwitzt (von Umständlichkeiten beim Absetzen noch abgesehen).
(3) Was gar nicht funktioniert, ist eine Kombination des Rucksacks mit einer ›Kampfweste‹, an der vorn Molle-Pouches angebracht werden können. Der Grund ist (nach meinem Eindruck), dass in diesem Fall die Hebelkraft der vorderen Last effektiv nicht an der gleichen Stelle der Wirbelsäule ansetzt wie diejenige des Rucksacks, sondern tiefer an der Brust- oder Lendenwirbelsäule, was sozusagen zu Scherkräften und (zumindest bei mir) sehr schnell zu Schmerzen führt. Wenn das gesamte Tragesystem eine Weste ist, ist dieser Effekt vielleicht irgendwie vermeidbar, aber ich sehe nicht, wie man dabei auf das nötige Volumen kommen soll und wie man vermeidet, dass man dann am gesamten Oberkörper schwitzt.
(4) Was ich stattdessen tatsächlich und sozusagen gegenteilig ausprobieren werde, ist ein separater Hüftgurt (militärisches Lochkoppel), an dem mehrere relativ kleine, am Gurt verschiebbare Molle-Pouches (ca. 15 x 10 x 6 cm) befestigt werden. Diese Hüfttaschen sollten dann vor allem kleine und schwere, aber auch häufig gebrauchte Gegenstände aufnehmen: Teile des trockenen Proviants, evtl. eine kleine Wasserflasche, den Minimalkocher, den Trockenbrennstoff, aber auch die Regenhose und dergleichen. Der Gurt muss bei richtiger Längeneinstellung nicht an der Hose befestigt werden, ist also leicht abzunehmen; ferner können die Pouches leicht nach hinten, nach vorn oder zur Seite verschoben werden, so dass man das Gewicht nach Gefühl umverteilen kann. (Bei der An- und Abreise würde ich die Pouches vermutlich aus optischen Gründen in den Rucksack verpacken. Das ist allerdings schnell gemacht, wenn der Rucksack nicht mehr ganz gefüllt ist.)
Ich verspreche mir von dieser ›Lösung‹ eine Erleichterung des Rucksacks um etwa 1,5 bis 2 kg, und da das Koppel nebst Pouches natürlich ein Eigengewicht hat (270 g + 5 x 95 g = 745 g), wiegt der gefüllte Gurt voraussichtlich zwischen 2,5 und 3 kg. Das ist sicher kein Thema für ein UL-Forum.
Der Sitz an den Hüften ist außerdem so, dass mein Rucksack wahrscheinlich auf den hinten angebrachten Taschen aufstößt, was sich dann in der Praxis entweder als Nachteil oder als Vorteil herausstellen wird. Ursprünglich gehört es wahrscheinlich zum Konzept des Berghaus Centurio, dass er in Kombination mit militärischen Tragesätzen und dergleichen genutzt werden kann. Insofern ist die Idee der Kombination mit einem Ausrüstungskoppel nicht abwegig. Man muss das aber ausprobieren. Meine früheren Erfahrungen mit der Befestigung von Lasten (z.B. Wasserflasche) vorn am Hosengürtel sind sehr schlecht, weil in diesem Fall einseitige Hebelkräfte am Becken ansetzen. Das soll durch die flexible Verteilung der Pouches jetzt verhindert werden.
Im Erfolgsfall schreibe ich hier einen Artikel darüber – aber es wäre natürlich wieder nur eine sehr spezielle Ausrüstungslösung, die sich auf andere Nutzer kaum übertragen lässt.
Hi,
zum Thema Rucksack und Lastverteilung/Ergonomie findet man eine schöne, erklärende Grafik hier: https://www.aarnpacks.com/bio1
Gruß, Joachim