Merino kratzt nicht und mein Arbeitsplatz ist mein Kampfplatz für den Frieden

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Ganz Gallien ist von den Römern besetzt. Merino kratzt nicht. Wanderschuhe mit Membranfutter sind wasserdicht und atmungsaktiv. Bundeswehr-Moleskinhosen sind unverwüstlich.

Das ist Allgemeinwissen, das durch Sprechen und Nachsprechen entsteht. Alle oben zitierten Sätze haben einen unwahren Kern: Sie erweisen sich nämlich in der Praxis als irreführend, wenn sie wörtlich genommen werden.

Und es kratzt doch

Merino, auf der Haut getragen, kratzt beharrlich bei schätzungsweise 10–20 % der Träger. Das hängt vermutlich von individuellen Hautreaktionen ab und ist relativ unabhängig vom Hersteller. Genaueres weiß man nicht, jedenfalls nicht als Internet-Leser. Es wäre zwar angesichts der Bedeutung des Materials im Outdoor-Bereich wichtig, mehr darüber zu wissen, aber die Sachfrage wird überblendet durch das Mantra. So erhält man dann, wenn man in einer Internet-Suchmaschine den Satz »Merino kratzt« eingibt, gewöhnlich zur Antwort: »Merino kratzt nicht«. Und auch ein Journalist, der einen Artikel über Merino als den neusten Ausrüstungstrends von vor zehn Jahren schreibt, wird bei branchenüblicher Recherchetiefe vermutlich zu dem Ergebnis kommen, dass Merino nicht kratzt. Die Fachpresse bestätigt es also: »Merino kratzt nicht.«

Entweder wasserdicht oder eben nicht

Schuhe mit Membranfutter (z.B. Goretex) sind im Auslieferungszustand wasserdicht. Daran habe ich keine Zweifel.
Wichtiger ist aber, dass es zahlreiche Praxisberichte gibt, die auf die begrenzte Dauerhaftigkeit der Membran hinweisen. Die Membran kann an der Knickstelle beschädigt oder auch im Bereich der Zehen durchgescheuert werden, eventuell gibt es weitere Schwachstellen. Wenn man den Berichten Glauben schenkt, treten Undichtigkeiten mitunter schon nach wenigen hundert Kilometern, typischerweise etwa nach 800–1000 km auf, während bei manchen anderen Nutzern die Membran möglicherweise dauerhaft dicht bleibt. Eine Undichtigkeit im Bereich der Knickfalte ist besonders fatal, weil von oben eindringendes Wasser eben den Schuh nicht wieder verlässt – das Futter ist ja ansonsten wasserdicht. Der membrangefütterte Schuh erweist sich also als ein theoretisch perfektes, aber in der Praxis fehlerintolerantes System.
Auch bei diesem Thema ist die empirische Datenlage unsicher, aber die Häufigkeit kritischer Praxisberichte legt die Vermutung nahe, dass die Membran bei einer Mehrheit der Nutzerinnen und Nutzer nicht länger hält als die erste Laufsohle. Da man es aber genauer nicht weiß, behilft man sich außerhalb des Praxisberichts mit der Unwahrheit, indem man bei der Beschreibung des Produkts das Marketing-Mantra wiederholt: »wasserdicht und atmungsaktiv«.

Unverwüstliche Lieferbedingungen

Bundeswehr-Moleskinhosen sind ›unverwüstlich‹. Keine Ahnung, wie oft ich dieses Wort inzwischen gelesen habe. Wenn man heute eine nach TL (Technische Lieferbedingungen der Bundeswehr) gefertigte Moleskinhose neu kauft, fällt auf, dass der Stoff bereits nach wenigen Wäschen lappig wirkt, auch wenn im Auslieferungszustand kein Unterschied zu bemerken ist. Im Zweifel ist daher eine gut erhaltene Hose aus Bundeswehr-Restbeständen einer neu produzierten vorzuziehen. Auch scheinen sich die technischen Lieferbedingungen nicht auf die Qualität der Einschubtaschen zu beziehen. Jedenfalls waren diese bei neueren Exemplaren zwischenzeitlich aus einem Material hergestellt, das den üblichen Belastungen, denen eine Einschubtasche im Alltag ausgesetzt ist, absehbar nicht standhalten kann.
Über beide Phänomene wird man im Internet nichts erfahren. Sie zeigen sich auch erst, wenn man das Produkt über viele Jahre hinweg im Alltag benutzt und daher die Qualität historischer und neuerer Exemplare miteinander vergleichen kann. Das Mantra der Unverwüstlichkeit bleibt nur plausibel, solange man nicht über solches Spezialwissen verfügt.

Informationsineffizienz des Ausrüstungsmarkts

Das Gemeinsame an diesen drei Fällen ist der Eindruck, dass das unter den Marktteilnehmern verbreitete Allgemeinwissen über Produkteigenschaften eine ähnliche Form hat wie die Propagandarhetorik realsozialistischer Gesellschaftssysteme. Der Satz »Merino kratzt nicht« funktioniert in der Marktkommunikation so ähnlich wie der Satz »Mein Arbeitsplatz ist mein Kampfplatz für den Frieden« in der politischen Kommunikation der SED. Es kommt nicht darauf an, dass er buchstäblich wahr ist. Es kommt auch nicht darauf an, dass er von allen Sprechern und Adressaten geglaubt wird. Wichtig ist allein, dass er ausgesprochen und nachgesprochen wird, so dass er die durchschnittliche Wahrnehmung prägt und das Allgemeinwissen strukturiert.

Eigentlich handelt es sich hier um eine Form systematisch erzeugter Informationsineffizienz des Produktmarktes, also um zweckmäßiges Marktversagen. Zweckmäßig ist das Marktversagen für die Produzenten und teilweise auch noch für den Handel, weil sich die Konsumenten dadurch weiterhin veranlasst sehen, Produkte zunächst nach Maßgabe eines unzureichenden Allgemeinwissens zu kaufen und dann erst im Gebrauch etwaige Einschränkungen des Gebrauchswertes festzustellen.

Vollständige Informationseffizienz ist zwar grundsätzlich nicht möglich, da der Gebrauchswert eines Ausrüstungsgegenstandes immer eine individuelle Komponente behält, die sich dann eben im Gebrauch herausstellt. Aber in den obigen Beispielen ist es so, dass ein prinzipiell vorhandenes Spezialwissen von allgemeiner Bedeutung die Konsumenten in der Regel nicht erreicht, weil es durch das Mantra systematisch verstellt (und im Internet auch quantitativ verschüttet) wird. Das funktioniert nur deshalb, weil das Mantra sowohl von den Händlern als auch den Konsumenten selbst unablässig nachgesprochen wird.

Eine gängige Reaktion auf diese Kritik ist der Hinweis, es sei doch trivial und jedem Konsumenten bekannt, dass die Sprache der Werbung keine adäquate Produktinformation vermittle. Das stimmt. Es besagt aber nichts anderes, als dass Informationsineffizienz in Produktmärkten eben etwas Gewöhnliches ist. Wieso Händler, andere Multiplikatoren und häufig auch die Konsumenten sich an ihrer Reproduktion beteiligen, kann dadurch nicht vollständig erklärt werden.

(Es soll auch hier nicht erklärt werden. Eine allgemeine Theorie der Informationsineffizienz kapitalistischer Konsumgütermärkte oder der systematischen Verzerrung der Kommunikation im Internet wäre nur von begrenztem Interesse, solange nicht klar ist, was aus einer solchen Kritik praktisch folgen könnte. Der Beitrag verfolgt daher nur das Ziel, das Problem als ein zu gleichen Teilen praktisches und theoretisches Problem aufzuwerfen.)

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