Philosophie von Leib und Raum
Für eine phänomenologisch orientierte Philosophie (also eine solche, die sich mit ›Sachen‹ in der Bewusstseinswelt des Menschen beschäftigt) könnte das Wandern ein dankbares Thema sein. Das Gehen als eine sehr elementare Tätigkeit des Menschen wird beim Wandern zur Hauptsache, und indem sich dieses Gehen in einer sogenannten Landschaft vollzieht, setzt sich das leiblich verfasste Menschenwesen beim Wandern in eine Beziehung zum Raum. Es ›erlebt‹ die Landschaft in ihrer tatsächlichen Ausdehnung, indem es sie auf einem Weg oder einer Route durchquert, ihre Materialität an den Füßen spürt und sie aus stets wechselnder Perspektive anschaut. Dieses Erleben ist sowohl durch die leibliche Verfasstheit des Menschen in bestimmter Weise konfiguriert (man macht Schritte, geht aufrecht, kann den Blick dabei drehen und wenden etc.) als auch kulturell geprägt (die Landschaft erscheint als schön oder erhaben, harmonisch, eintönig, düster, freundlich und dergleichen mehr).
Von daher wäre das Wandern ein Thema der Leibphänomenologie, der Phänomenologie des Raumes, aber – im Hinblick auf die Konstitution der Landschaft im Bewusstsein – auch einer phänomenologischen Kultursoziologie und schließlich einer kulturvergleichenden Geschichte des Gehens und der Landschaftswahrnehmung in ihren möglichen Varianten. Einiges davon gibt es, aber es versteckt sich gut, zumal in den Kulturwissenschaften die kulturphänomenologische Fragestellung in den meisten Fällen abgleitet in eine Deutung bestimmter Artefakte: Nicht die Landschaft als Form des Raumbewusstseins ist dann von Interesse, sondern etwa die romantische Landschaftsmalerei, die unsere Landschaftswahrnehmung historisch unzweifelhaft geprägt hat.
Die Leibphänomenologie schließlich leidet wie die Phänomenologie als ganze (d.h. als philosophische Richtung) darunter, dass sie im Laufe des 20. Jahrhunderts immer mehr zu einer Exegese der phänomenologischen Klassiker geworden ist und sich nur noch gelegentlich ihrer Anfänge erinnert, also nur noch gelegentlich ihren Blick direkt auf die Bewusstseinsphänomene, auf die ›Sachen‹ in der Bewusstseinswelt des Menschen richtet. Die Klassiker der Leibphänomenologie (etwa Scheler, Plessner, Levinas, Merleau-Ponty) haben keine dezidierte Phänomenologie des Gehens und des Raumbezugs in Bewegung entwickelt, und deshalb, so könnte man etwas rigoros sagen, gibt es heute keine Phänomenologie des Wanderns.
Empirische Wanderforschung
Was ist dann heute ›Wanderforschung‹? Auf der gleichnamigen Website, die im Wesentlichen von dem empirischen Soziologen und Wanderforscher Rainer Brämer betrieben wird, sollte man dazu Auskünfte einholen können. Insbesondere findet man dort einen ausführlichen Text mit dem Titel »Themen und Stationen der Wanderforschung. Versuch einer Wissenschaftsgeschichte im Prozess des Entstehens«.
Die Geschichte, die Brämer erzählt, ist ziemlich einfach und geradlinig. Früher gab es keine Wanderforschung als Wissenschaft, weil das Wandern als Tätigkeitsform ein sich selbst organisierendes System war, das keine Fragen aufwarf. Nur seine geschichtlichen Wandlungen wurden hin und wieder reflektiert. Brämer bemängelt in diesem Zusammenhang immerhin, dass etwa die volkskundliche Forschung, die die kulturelle Einbindung des Wanderns hätte darstellen können, sich des Themas ebenfalls kaum angenommen habe.
Die Geburtsstunde einer wissenschaftlichen Wanderforschung, so Brämer, schlägt erst mit der Krise des Wanderns im späten 20. Jahrhundert, die im Wesentlichen eine Krise der Wandervereine und des innerdeutschen Wandertourismus ist. Zu einer ernsthaften Wissenschaft wird die Wanderforschung dadurch, dass sie die vorherrschenden Bedürfnislagen der Wanderer empirisch erforscht und daraus sozusagen marktgerechte Schlussfolgerungen ableitet, etwa im Sinne von Leitlinien für bedürfnisgerechte Wanderwege und avancierte Erlebnisinszenierung. Der zertifizierte Premiumwanderweg ist gewissermaßen das wissenschaftlich fundierte Endprodukt, von dessen Wertschöpfungsnutzen her sich die Wanderforschung als Wissenschaft legitimiert.
Der Preis der Ökonomisierung
Es gehört zu den besonderen Qualitäten der Wanderforschung in diesem Sinne, dass sie ihre ökonomische Funktion (und kritisch könnte man sagen: ihre ideologische Funktion innerhalb eines anhaltenden Trends zur Ökonomisierung aller menschlichen Tätigkeiten und Bedürfnisse) ganz unverblümt proklamiert und gleichsam als Kern wissenschaftlicher Modernität ausweist. Die Wanderforschung hat sich professionalisiert, indem sie ›nunmehr einem Markt zuarbeitet‹, wie es auf S. 8 heißt.
Diese Blickverengung hat gewisse Skurrilitäten zur Folge.
Zunächst einmal wird das Strecken- und Weitwandern thematisch vernachlässigt, weil eben nur ein kleiner Bruchteil der Wanderer mehrere Tage unterwegs ist; und falls diese Minderheit dann auch noch das Wandern mit asketischen Motiven in Verbindung bringen sollte, wie es häufig geschieht, wird sie für den Marktbeobachter sozusagen uninteressant. Brämers Äußerungen darüber haben (trotz ausführlicher und überwiegend neutraler Behandlung des Pilgerns als Sonderform) einen leicht abfälligen Unterton, denn wenn das erlebnisoptimierte Wandern auf Premiumwegen den Inbegriff des modernen Wanderns ausmacht, ist eben das quasi-asketische Weitwandern der Inbegriff des ›alten‹, veralteten Wanderns – so als hätte der Fernwanderer, der nachts in seinem Zelt herumfröstelt, nur noch nicht recht begriffen, worin eigentlich die Erlebnisqualität des Wanderns besteht.
Premiumwandern weltweit?
Mit entsprechendem Unverständnis steht Brämer der ›Marktsituation‹ in Skandinavien und den USA gegenüber. In der Zusammenfassung der internationalen Forschungslage heißt es:
»Als gleichermaßen anspruchsvolle Destination setzt Norwegen 2014 ebenfalls auf eine staatliche Kampagne mit dem Ziel der Entwicklung Norwegens zu einer internationalen Wanderdestination. Die einbezogenen Touristiker zeigen allerdings nur begrenztes Verständnis für moderne Kundenwünsche nach einer bequem-genussreichen Erschließung der norwegischen Landschaft und behalten lieber nationale Outdoor-Traditionen bei, in denen mehrtägig-asketische Touren eine bestimmende Rolle spielen. (Nordbø u.a. 2014)« (Ebd., S. 18)
Und im Anschluss daran über die USA:
»Ähnlich wie in Norwegen und Schottland kennzeichnet das Festhalten an überkommenen Vorstellungen eines entdeckenden, abenteuerlichen Wanderns auch die Situation in Nordamerika. Zurückzuführen ist das vermutlich vor allem auf einen seit den Zeiten der Planwagentrecks bis heute erhaltenen Wildnis-Mythos, wie er von nationalen Naturromantikern wie Henry David Thoreau, John Muir oder Aldo Leopold wach gehalten wurde.« (Ebd.)
In der Tat gibt es hier wie dort Traditionen, die sich nicht ohne weiteres in jenes erlebnisoptimierte Spazierwandern überführen lassen, das Brämer in Mitteleuropa als wahren Kern des modernen Wanderns entdeckt hat. Diese ›Traditionen‹ gehen überwiegend aus sachlichen Gegebenheiten hervor. In den USA ist es so, dass schon aus Gründen des Eigentumsrechts und der Besiedlungsstruktur ein gemütliches Daherspazieren auf öffentlichen Feldwegen und Pfaden in der Regel nicht möglich oder nicht sehr genussreich ist. Deshalb (und nicht wegen irgendwelcher Romantizismen) ist das ›hiking‹ bis heute in der Regel an ›Trails‹ in Wildnisgebieten gebunden, woraus sich wiederum eine andere Publikumsstruktur ergibt.
Und wer zum Wandern nach Norwegen reist, sucht vielleicht gerade das wirkliche oder imaginierte Abenteuer unter den Bedingungen des Jedermannsrechts und genießt dabei eine Akzeptanz seitens der Einheimischen, die sich aus einer Tradition des ›friluftsliv‹ ergibt. Dass die Nutzer deutscher Premiumwege andere Bedürfnisse haben, mag ja sein. Aber daraus folgt nicht, dass am deutschen Premiumwanderwegswesen auch der Rest der Welt genesen muss.
Konsumismus und wissenschaftliche Neutralität
Nicht jeder sucht das Abenteuer, aber selbst in Deutschland bleibt die Exploration des Raumes beim Gehen ein legitimer Wunsch, der beim Wandern realisiert werden kann. Genauso legitim ist das ›asketische‹ Bedürfnis, mit weniger auszukommen, als die Konsumwirtschaft den Menschen im Alltag anzudienen pflegt. Das Verhältnis des ›Wanderns‹ zum organisierten ›Konsum‹ einerseits, zum Unbestimmten und zum Abenteuer andererseits ist prinzipiell unklar und von daher individuell gestaltbar.
Eine Wissenschaft, die sich wie die hier vorgestellte Version von ›Wanderforschung‹ hauptsächlich als Marktforschung versteht, verkennt diese prinzipielle Offenheit, ergreift sozusagen Partei für den empirisch konstatierten Konsumismus der Mehrheit und verliert dadurch ihre Neutralität.