Systematische Kritik an der Idee des Premiumwanderns gibt es in Deutschland so gut wie gar nicht. Regional wird seitens der klassischen Wandervereine gelegentlich die Frage aufgeworfen, inwiefern die Entstehung von zertifizierten Prädikatswegen zu einer Überforderung der ehrenamtlichen Wegearbeit führt oder sogar die bisherige, gleichsam flächendeckende Pflege des Wanderwegenetzes gleichsam entwertet. Beiträge zu dieser Debatte findet man zum Beispiel in Heft 3/2015 der Zeitschrift des Schwarzwaldvereins.
Der Pressesprecher des Schwarzwaldvereins Stephan Seyl stützt in diesem Heft seine persönliche Kritik des ›Zertifizierungswahns‹ zwar auf Grundsatzüberlegungen zur Landschaftsästhetik, zur Erlebnisinszenierung und zum Konsumverhalten, aber diese Stellungnahme (mit der ich sympathisiere) bleibt gewissermaßen singulär:
»Vielleicht ist das der erste Widerspruch im Qualitätsversprechen der zertifizierten Wanderwege: Das Prädikat ist Werbeargument des Tourismus und lockt viele Menschen auf wenige Wege. Will ich aber wirklich in der Meute von einer – bereits besetzten – Himmelsliege zur nächsten – ebenfalls besetzten – laufen und mir von drehbar montierten Bilderrahmen vorgeben lassen, wo ich wie in die Landschaft zu schauen habe? Der Fachmann nennt all dies wohl ›Inszenierung‹. Ich finde, die Natur- und Kulturlandschaft des Schwarzwaldes inszeniert sich selbst. Beim Wandern suche ich keine aufgehübschte Bollenhut-Idylle. Ich möchte die Landschaft sehen und erleben, wie sie ist: Dazu gehören in einer intensiv landwirtschaftlich genutzten, teils zersiedelten Region auch mal ein paar Meter auf Asphalt oder der unromantische Forstweg mit hässlichem Holzlagerplatz. All das lehrt mich etwas über die Landschaft und wie die Menschen in ihr leben und arbeiten. Die in den letzten Jahren immer häufigere Neuzertifizierung setzt bei der wandernden Kundschaft der Tourismusorganisationen eine Anspruchsspirale in Gang, die den immer aufwändiger optimierten Prädikatsweg zur Normalität erklärt und damit jeden ›normalen‹ Wanderweg abwertet. Nebenbei wächst die Gruppe der Wanderer, die sich ihr Wandererlebnis aus Hochglanzprospekten zusammenstellen und ein Highlight nach dem anderen abhaken, dabei aber nicht mehr in der Lage sind, selbstbestimmt zu planen und sich mit Wegemarkierung und Wanderkarte zurechtzufinden.« (S. 10)
Ansonsten kann man vorläufig als ›empirischen Befund‹ zur Kenntnis nehmen, dass das Angebot eines vorgefertigten ›Erlebnispakets‹, das keine eigene geographische Orientierungsleistung erfordert, den Bedürfnissen einer Mehrheit der Wanderer und Wanderinnen entgegenkommt. Wer andere Bedürfnisse hat, wandert eventuell anders und anderswo, spricht aber nicht eigens darüber, entwickelt keine Theorie und wird wahrscheinlich auch nicht gezielt von Wanderforschern zu den Motiven dieser ›Dissidenz‹ befragt.
Paradigmatisch für den konsumptiven Zugang zum Landschaftserleben ist etwa der Beitrag »Warum die Traumpfade so praktisch sind …« in dem vielgelesenen Wanderblog WandernBonn. Hier wird ohne Umschweife beschrieben, inwiefern sich innerhalb eines regionalen Systems von Prädikatswanderwegen die Entscheidung für einen bestimmten Weg als eine Auswahl aus einem technisch verfügbaren Produktkatalog darstellt.
In demselben Blog findet sich (am 9. Februar 2012) aber auch ein eher skeptischer Beitrag mit dem Titel »Muss es immer Premium sein?«, der die Alternativlosigkeit dieser Praxis zumindest in Frage stellt. Die Skepsis bezieht sich dabei wohlgemerkt nicht auf die Idee eines ›perfekten Wandererlebnisses‹ als solche, sondern eher auf die Vorstellung, dass die Zertifizierung von Wanderwegen (und das daraus abgeleitete Ranking) jederzeit maßgeblich für ein perfektes Wandererlebnis sei. Konkreter heißt es in dem Beitrag:
»Wer meinen Blog schon länger verfolgt, wird festgestellt haben, dass ich in letzter Zeit immer mal wieder auch abseits dieser Premium-Wege nach neuen Touren Ausschau gehalten habe. Und ich habe es nicht bereut, denn auch diese Wege bieten bei genauerem Hinsehen eine ganze Menge und haben mir den ein- oder anderen Wander-Flow bereitet.
Denn auch auf einem zertifizierten Weg kann ich zwar einem schmalen Pfaden folgen, dieser kann aber auf einem längeren Teilstück u.U. kaum Abwechslung bieten. Und so kann der ›No-Name-Weg‹ auch als Forstweg kurzweiliger sein. Selbst auf einem Traumpfad waren die ungeliebten Windräder in meinem Blickfeld, die ich woanders nicht ein einziges Mal gesehen habe. Und manchmal hat mir der Premiumweg an dem einen Tag vielleicht sogar weniger gefallen wie ein Rundweg des Eifelvereins im Ahrtal an einem anderen Tag.«
Die Leserkommentare zu dem Beitrag sind überwiegend zustimmend; teils wird auch dezidierter darauf hingewiesen, dass man Prädikatswege meidet, wenn man die Natur lieber allein genießen möchte.
Von einigem Interesse ist darüber hinaus ein Leserkommentar von Rainer Brämer, der unerwartete Differenzierungen enthält, wie ich sie in den Veröffentlichungen des Deutschen Wanderinstituts bisher kaum gefunden habe. Ich zitiere diese immerhin fünf Jahre zurückliegende Einlassung (vom 11. Februar 2012) nahezu vollständig, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich wie eine vorweggenommene Erwiderung auf meine Kritik der Wanderforschung lesen lässt:
»[S]uper, endlich einmal ein paar kritische Kommentare zu Premiumwegen. Zwei Bemerkungen dazu:
1. Natürlich hat jeder seine eigenen Wandervorlieben. Das gilt insbesondere für Profiwanderer, wie sie sich hier äußern. Klar, die suchen sich ihre Wege lieber selber und sind am liebsten auf eigene Faust unterwegs. Ehrlich gesagt: Premiumwege sind nicht in erster Linie für sie gemacht, auch wenn sie natürlich auch ihre Freude daran haben dürfen. Die Planungskriterien orientieren sich vielmehr an den Wünschen und Erwartungen der großen Wanderermehrheit, die Karten nur unzureichend lesen können, elektronische Geräte nicht auch noch mit in die Natur nehmen wollen, denen es einfach nur um ein paar Stunden bewegter Entspannung in einer erlebnisreichen Naturlandschaft geht. Der Eröffnung des ersten Premiumweges vor gut 10 Jahre (Rothaarsteig) gingen jahrelange Befragungen tausender Wanderer in ganz Deutschland sowie ein gründliches Studium der Befunde landschaftspsychologischer Untersuchungen voraus.
2. Natürlich gibt es tausende Wege, die genauso erlebnisreich sind. Schließlich haben wir Deutschland nicht durchgescannt, sondern sind mit unseren geringen Kräften nur dort im Einsatz, wo wir gerufen werden. Das Deutsche Wanderinstitut ist keine Behörde, sondern ein gemeinnütziger Verein ohne jede finanzielle Fremdförderung. Wo wir tätig waren, versuchen wir allerdings das Beste herauszuholen – soweit dem andere Interessen (Forst, Jagd, Naturschutz usw.) nicht entgegenstehen. Es stimmt einfach nicht, dass man überall in Deutschland gut Wandern kann. Selbst die von den Wandervereinen ausgewiesenen Wege waren noch Ende letzten Jahrhunderts zu zwei Drittel unter Asphalt und Schotter begraben, von längeren Passagen auf Straßen nicht zu reden. Wie oft beißen wir uns auch heute noch bei der Suche nach Premiumtrassen die Zähne aus und müssen aufgeben. Und wo wir fündig werden, sind wir dann noch mehrmals mit Ortskundigen unterwegs. Wie so etwas geht, kann man beispielhaft bei Manuel Andrack (›Das neue Wandern‹) nachlesen […].«
Nur wenige Tage später schreibt übrigens besagter Manuel Andrack in einem Blogpost (ohne den WandernBonn-Blog namentlich zu erwähnen):
»Premiumwandern, muss es immer Premiumwandern sein? Das höre ich in letzter Zeit öfter. Um es direkt zu sagen: das ist eine selten dämliche Frage.«
Auf diese kleine Pöbelei (die ich an anderer Stelle, nämlich im Newsletter eines Wandervereins, ohne Quellenangabe zitiert bzw. nachgeplappert gefunden habe) folgt dann im weiteren Verlauf des Posts die übliche Premiumpropaganda.
Die winzige Debatte hat ansonsten zunächst keine weiteren Kreise gezogen, soweit ich das als Suchmaschinenbenutzer erkennen kann. Die WanderBonn-Bloggerin kommt allerdings später noch mehrmals auf das Thema zurück, insbesondere in dem Beitrag »Wandern 2.0, oder: Darf’s ein bisschen mehr sein« (12. Mai 2014), der unter anderem eine Kritik der Erlebnisinszenierung auf Prädikatswanderwegen enthält. Auch hier sind die Leserkommentare aufschlussreich, weil sie häufig eine pragmatisch begründete Skepsis gegenüber dem ›Hype‹ und gegenüber irreführendem Marketing zum Ausdruck bringen.
Die Bloggerin veröffentlicht ferner im Juni 2014 einen Bericht von einer Mehrtagestour in den Alpen, in welchem sie ihre flexible Routenplanung (von Tag zu Tag mittels Papierkarte) unter dem Aspekt der ›Freiheit‹ thematisiert. Es erscheint ein wenig wie ein Akt der Emanzipation, sich von den Restriktionen einer vorgefertigten Wanderroute zu lösen.
Von daher könnte man beiläufig auf die Idee kommen, unterschiedliche Wander- und Planungsstile seien nicht zuletzt auf Sozialisations- und Generationsunterschiede zurückzuführen: Für jemanden, der in der ›Epoche der Papierkarten‹ intensiv zu wandern begonnen hat, ist eine vom geographischen Kartenüberblick ausgehende Routenfindung naheliegend, und das ›betreute Wandern‹ auf zertifizierten Wegen kann dann befremdlich erscheinen; für jemanden, der quasi schon in der ›Epoche der Prädikatswege‹ aufwächst, ist aber die Auswahl aus dem ›Erlebnisproduktkatalog‹ eine natürliche Herangehensweise, von der man sich später entweder ›emanzipiert‹ oder auch nicht.