Die Vorstellung, dass unser Alltagsverhalten weitgehend durch genetische Programme determiniert sei, in denen sich die Erfahrungen unserer Urahnen manifestieren, ist für viele Menschen vermutlich aus zwei Gründen attraktiv.
Erstens entlastet eine solche Theorie den Einzelnen von jenem Übermaß an Verantwortung, das die moderne Gesellschaft ihm üblicherweise aufbürdet. Zweitens ermöglicht sie ihm ein Überlegenheitsgefühl in dem Sinne, dass er sich nunmehr einbilden kann, das Verhalten anderer Menschen besser zu verstehen als diese selbst. Die bedrohliche Kontingenz des Verhaltens anderer schrumpft damit zum Material eines Gesellschaftsspiels, in dem man dem Anderen mit blasiertem Lächeln vorhalten kann, er sei eine Marionette dieses und jenes genetischen Programms, das man selbst aber durchschaut habe.
Da sich die Jäger und Sammler, die am Anfang unserer Ahnenkette stehen, gegen unsere Zuschreibungen kaum wehren können, ist es leicht möglich, zu jedem beliebigen Verhalten eine ursprüngliche Bedeutung, einen in grauer Vorzeit wirksamen Selektionsvorteil zu erfinden, ohne dass es dazu unbedingt eines gesicherten Wissens über die tatsächlichen Lebensbedingungen jener Menschen bedürfte, die während eines Zeitraums von einer Million Jahren in den verschiedensten Weltgegenden, das heißt in unterschiedlichsten natürlichen und sozialen Umwelten gelebt haben.
Der sachliche Gehalt der Thematik ist schwer einzugrenzen. Denn dass die Vorgeschichte einer Spezies keine Spuren in der Konstitution ihres Verhaltens hinterlassen haben sollte, ist einerseits kaum denkbar. Andererseits muss einer der wesentlichen evolutionären Vorteile des Menschen die kulturelle Plastizität seines Verhaltens gewesen sein, und wäre er tatsächlich in dem Ausmaße genetisch determiniert, wie man es sich heute mitunter populärwissenschaftlich zurechtlegt, so wäre er in wechselnden natürlichen Umwelten kaum überlebensfähig gewesen. Die Evolutionspsychologie in ihrer populären Variante neigt mit anderen Worten dazu, die Evolution der Spezies Mensch nicht wirklich ernst zu nehmen, sondern die Vorgeschichte als eine bloße Projektionsfläche zu verwenden. Die Erklärungen, die sie für Verhaltensmuster liefert, sind dann nur der äußeren Form nach wissenschaftliche Erklärungen, weil man schon im ersten Schritt eine bestimmte Art von evolutionärer Kausalität als gegeben voraussetzt und auf dieser Grundlage eine zum gegenwärtigen menschlichen Verhaltensmuster passende gattungsgeschichtliche Gegebenheit postuliert.
Nach derselben Logik könnte man zum Beispiel im Rahmen einer dämonologischen Schlaftheorie aus dem gehäuften Auftreten von Müdigkeit am Abend folgern, dass Schlafdämonen nachtblind sind: Weil sie sich in der Dunkelheit nicht zurechtfinden, besetzen sie einen menschlichen Organismus, bis es wieder hell wird. Könnte man voraussetzen, dass Müdigkeit und Schlaf durch Dämonen verursacht werden, wäre das eine vernünftige Hypothese; wenn es hingegen keine Schlafdämonen gibt, ist es relativ müßig, über ihre Nachtblindheit zu spekulieren. Vor allem aber wird die dämonologische Schlaftheorie nicht schon dadurch zu einer Wissenschaft, dass die Nachtblindheit der Dämonen die abendliche Müdigkeit des Menschen erklären könnte.
Die evolutionspsychologische Variante der Landschaftspsychologie, die sich etwa auf Jay Appletons Prospect-Refuge-Theorie oder Gordon Orians’ Savannenhypothese stützt, ist von den methodischen Problemen, die sich hier abzeichnen, ebenfalls betroffen. Der Umstand, dass eine Mehrheit von Menschen (und insbesondere dann eine Mehrheit der Wanderer) einen bestimmten, in bestimmter Weise strukturierten und bestimmte Elemente enthaltenden Landschaftstyp als schön empfindet, wird in diesen Theorien darauf zurückgeführt, dass eben dieser Landschaftstyp der Lebensweise des archaischen Menschen, insbesondere seinen Sicherheits- und Versorgungsbedürfnissen entsprochen habe. Insofern sei der Mensch in seiner ästhetischen Landschaftswahrnehmung genetisch geprägt.
Die Details dieser Theorie sollen hier gar nicht ausgeführt werden. Einige Einwände liegen auf der Hand:
Erstens widerspricht die Erfahrung, dass die meisten Menschen den Landschaftstyp lieben, in dem sie aufgewachsen sind, der Hypothese einer generellen genetischen Determinierung. Eine solche Determinierung wäre bei der Ausbreitung des Menschen über fast alle Landschaftstypen der Erde ohnehin sehr hinderlich gewesen.
Zweitens kann auf diese Weise nicht erklärt werden, wieso viele Menschen zum Zweck der Erholung oder zum Zweck der Abenteuerbeschaffung Landschaften aufsuchen, die dem Idealtypus der hügeligen, wasserreichen Savannenlandschaft gerade nicht entsprechen.
Drittens kommt man nicht umhin, festzustellen, dass Landschaftsgestalten wie der dichte Wald, das Gewässer oder der (weite Ausblicke ermöglichende) Aussichtspunkt unter den in der Theorie meist herangezogenen Sicherheits- und Sichtbarkeitsgesichtspunkten ambivalente Gefühle auslösen müssten. Das Gewässer ist nicht nur eine Wasserquelle, sondern auch der Lebensraum von Krokodilen; im Wald kann man nur Schutz vor dem Großraubtier finden, wenn nicht auch dieses Raubtier den Wald als Rückzugsraum und Hinterhalt nutzt; an einem exponierten Ort sieht man nicht nur mehr, sondern wird auch besser gesehen. Die genetische Fixierung einer Gefühlswelt auf bestimmte Landschaftsgestalten wäre also auf lange Sicht immer tödlich.
Den populärwissenschaftlichen Landschaftspsychologen sind diese Einwände durchaus geläufig, wie etwa die Darstellung von Walter Schmidt durchblicken lässt; sie sind aber für sie kein Anlass, die evolutionspsychologische Erklärungsweise als solche in Zweifel zu ziehen. Denn auch für jedes abweichende Verhaltens- oder Empfindungsmuster lässt sich eine Erklärung konstruieren. Die Bevorzugung einer unwirtlichen Landschaft beim Trekking würde sich etwa auf die Gewohnheit des prähistorischen Jägers zurückführen lassen, an seine Leistungsgrenzen zu gehen und gemeinsam mit einer kleinen Gruppe von Jagdgenossen die bejagten Tiere über längere Strecken in die Wildnis hinein zu verfolgen. Wenn man einmal in die Sphäre dieser Phantastik eingetreten ist, sind der Phantasie kaum Grenzen gesetzt.
Die Wissenschaftlichkeit einer Hypothese ist gewöhnlich von ihrer Falsifizierbarkeit abhängig, also davon, dass Falsches methodisch als falsch erkannt werden kann. Solche Falsifizierbarkeit ist hier nicht gegeben, denn weder ist die Faktizität und globale Verallgemeinerbarkeit der jeweils postulierten prähistorischen Lebensbedingungen überprüfbar noch ist ohne Weiteres nachzuvollziehen, in welcher Weise sich bestimmte reale Lebensbedingungen auf die genetische Konstitution des Lebewesens ausgewirkt haben. Dieser Mangel an Wissen wird durch die schematische Kausalitätskonstruktion nicht ausgeglichen, sondern methodisch verschleiert. Was also in der evolutionären Landschaftspsychologie entsteht, ist ein Aussagensystem, das differenziert und kohärent sein kann, aber nie Wissenschaft wird, sondern Weltanschauung bleibt.
Für die praktische Anwendung der Landschaftspsychologie – etwa bei der Anlage und Zertifizierung von Wanderwegen – ist das allerdings unerheblich. Hierfür reicht es nämlich völlig aus, im Sinne einer Marktforschung empirisch zu bestimmen, welche Gestaltelemente der Landschaft seitens einer Mehrheit der Wanderer und Wanderinnen besonders geschätzt werden. Die evolutionspsychologische Erklärung ist nur schmückendes Beiwerk und dient allen Beteiligten dazu, die Banalität der Präferenzen naturgeschichtlich zu veredeln. Der Wanderer kann sich dann für die Dauer seiner Wanderung als Erbe seiner heroischen Jäger-und-Sammler-Vorfahren fühlen, und wahrscheinlich trägt das zu seinem Wohlbefinden bei.