[Letzte Änderung am Text: 14.06.2017]
Der folgende Beitrag präsentiert eine Definition von ›Landschaft‹, sozusagen im Geist einer realistischen Phänomenologie, und erläutert die einzelnen Komponenten dieser Definition. Es geht dabei um die Frage, was Landschaft für ›uns‹ ist, bevor wir anfangen, sie als Fotomotiv , Schlachtfeld, landwirtschaftliche Nutzfläche oder Sportareal wahrzunehmen.
Kunsthistoriker und andere Kulturwissenschaftler weisen an dieser Stelle gern darauf hin, dass die moderne Landschaftswahrnehmung sich parallel zur neuzeitlichen Landschaftsmalerei entwickelt habe und von Landschaft überhaupt erst seit dem 15. Jahrhundert die Rede sein könne. Die Frage, was denn vorher dort war, wo heute Landschaft ist – was also die antike oder mittelalterliche Jägerin wahrgenommen hat, während sie dem Wild hinterhergelaufen ist –, wird eher selten gestellt und noch seltener beantwortet. In welchem Ausmaß eine phänomenologische Beschreibung von ›Landschaft‹ und Landschaftswahrnehmung einen historischen Index hat, bleibt daher bis auf Weiteres ebenfalls offen.
Und es darf auch offenbleiben. Für den Zweck einer leibphänomenologischen Untersuchung des Wanderns genügt es nämlich, wenn ›Landschaft‹ als Mobilitäts- und Wahrnehmungsfeld auf derselben phänomenologischen Abstraktionsebene beschrieben werden kann wie das Wandern als eine auf ›Landschaft‹ bezogene Mobilitätsform. ›Wandern‹ ist denkbar, weil ›Landschaft‹ denkbar ist, und wenn etwas anderes an die Stelle ›unserer‹ Landschaftswahrnehmung träte, würde vielleicht auch etwas anderes an die Stelle des Wanderns treten, eine leibliche Mobilitätsform etwa, die sich mit diesem Begriff nicht angemessen beschreiben ließe.
Wesentlich ist aber, dass die phänomenologische Abstraktion eine vorzeitige Vereinnahmung der Landschaft und des Wanderns verhindert. Landschaft steht unter dem leibphänomenologischen Gesichtspunkt zwar in Korrespondenz zu den Wahrnehmungs- und Mobilitätsmodi des menschlichen Leibes, aber sie ist als solche weder Wildnis noch Erholungsraum noch Sportareal noch irgendetwas anderes in dieser Art. Die Korrespondenz zum Leib bedeutet nur, dass Landschaft unter dem Wahrnehmungsgesichtspunkt ein Feld ist, aus dem dauerhafte Gestalten als ›natürliche‹ Gestalten (als Berge, Gewässer, Wälder etc.) hervortreten, und dass sie unter dem Mobilitätsgesichtspunkt ein Widerstandsfeld ist, aus dem permanente Mobilitätswiderstände als ›natürliche‹ Widerstände (als Distanzen, Steigungen, Bodenbeschaffenheiten, Vegetation) hervortreten. Das ist das, was gegeben ist, bevor irgendeine Aufladung mit weiteren Bedeutungen und Zwecken erfolgt.
Die Definition lautet also:
Landschaft ist ein Ausschnitt der Erdoberfläche, den wir als vorwiegend natürliches dauerhaftes Gestaltensemble wahrnehmen.
Erläuterungen:
(1) Erdoberfläche ist kein spezifisch phänomenologischer Begriff, und die Formulierung ›Ausschnitt der Erdoberfläche‹ erinnert eher an geografisch-raumplanerische Landschaftsdefinitionen als an die Sprache der Leibphänomenologie. Dem Leib ist sozusagen der durch einen Horizont begrenzte Wahrnehmungsraum gegeben, in dem es ein Oben und Unten und einige andere Elemente der Raumorganisation gibt, aber dieser Raum ist nicht ohne Weiteres ›Landschaft‹. Er wird im Alltagsverständnis erst dadurch zur Landschaft, dass man sich ›draußen‹ befindet und dass die architektonischen Artefakte des Wohnens und Arbeitens und ihre technische, z.B. urbane Umgebung das Ensemble der im Raum wahrgenommenen Gestalten nicht mehr dominieren. Landschaft ist also abseits der Stadt – wenn auch nur mit Einschränkungen, die weiter unten noch diskutiert werden müssen.
Vor allem aber ist Landschaft zunächst ein möglicher Aktionsraum, und daher rührt auch das Auftauchen des Wortes ›Erdoberfläche‹ in der Definition. Für ein Lebewesen, das nicht fliegen kann, ist die Landschaft zunächst der Bereich, der mit den gewöhnlichen Mitteln des Leibes durchquert werden kann, sozusagen die begehbare Welt, auch wenn manchmal geklettert und ein kurzes Stück geschwommen werden muss.
So ist der See noch ein Teil der Landschaft, der Ozean aber nicht, und der Himmel spannt sich über ihr, sein typisches Licht und seine Weite mag einer bestimmten Landschaft zuzuordnen sein, aber er wird gewöhnlich selbst nicht als ein Element oder eine Gestalt der Landschaft betrachtet.
Dass der Landschaftsbegriff hilfsweise auf den geografischen Begriff der Erdoberfläche rekurriert, ist also der leiblichen Bewegungspragmatik geschuldet: Der Mensch bewegt sich auf einem Boden, nicht unter dieser Fläche und nicht wie die Vögel über ihr; er ist darauf angewiesen, dass es diese solide horizontale Grenzfläche gibt, auf der er, in die Lufthülle hineinragend und zugleich nach unten gravitierend, gehen kann. Der Wanderer muss zwar, wie Gerhard Fitzthum schreibt, den Widerstand des Bodens bei jedem Schritt abfedern (»Konturen einer Philosophie des Wanderns« [1997], S. 8), aber dieser Widerstand des Bodens ist zugleich das, was im Stehen trägt und im Gehen als Widerhalt einer Abstoßbewegung in Erscheinung tritt.
(2) Um einen ›Ausschnitt‹ der Erdoberfläche handelt es sich insofern, als die Wahrnehmung der Erdoberfläche üblicherweise die Konfrontation mit einem visuellen Wahrnehmungsfeld ist, das zum einen durch den Horizont, zum anderen durch die zentralperspektivische Organisation des Sehsinns in bestimmter Weise begrenzt ist: Nähere Objekte und Gestalten innerhalb dieses Wahrnehmungsfeldes können fernere teilweise verdecken; der geometrische Horizont ist gewöhnlich von einer Kulisse verstellt.
Die Erscheinungsweise und Ausdehnung der Landschaft ist unter diesen Umständen in einem uns selten bewussten Maße von den Größenverhältnissen abhängig: Für die Frage, was für uns eine Landschaft ist, spielt es eine beträchtliche Rolle, ob wir 2 Zentimeter, 2 Meter oder 20 Meter groß sind. Für die Ameise wäre auch die gefurchte Baumrinde der Eiche ein eigener Landschaftstyp, für uns ist der ganze Baum nur eine Gestalt innerhalb des Wahrnehmungsfeldes.
Gleichwohl fallen die Grenzen einer Landschaft für ein mobiles Wesen nicht mit den Grenzen des Wahrnehmungsfeldes zusammen, sondern die Landschaft ist, sofern sie sich überhaupt als bestimmte Landschaft im Singular beschreiben lässt (also ein Areal bestimmter Ausdehnung bildet), ästhetisch durch die Ähnlichkeit der in ihr auftretenden Gestalten, praktisch auch durch die Ähnlichkeit der in ihr auftretenden Mobilitätswiderstände charakterisiert. Deshalb kann man von Auenlandschaften, Küstenlandschaften, Hügellandschaften, Hochgebirgslandschaften, Sumpflandschaften, Waldlandschaften etc. sprechen, die irgendwo anfangen und aufhören oder allmählich in etwas anderes übergehen.
(3) Der in der Definition verwendete Begriff der Gestalt entstammt der Gestaltpsychologie, bezeichnet also den Umstand, dass aus dem Ganzen des Wahrnehmungsfeldes Figuren hervortreten, die als einzelne charakteristische Wahrnehmungsgegenstände aufgefasst werden: Berg, Fluss, Wald, Wasserfall und dergleichen mehr. Als ›Ensemble‹ werden diese Gestalten nicht deshalb wahrgenommen, weil sie sich zur Landschaft aufaddieren lassen, sondern weil sie von vornherein im Zusammenhang mit anderen Gestalten dieser Landschaft stehen und sich ihre Charakteristik jeweils erst aus diesem Umfeld erschließt. In diesem schwachen Sinne eines Zueinandergehörens und Sich-voneinander-Abhebens haben für unsere Wahrnehmung alle Gestalten einer Landschaft ›Sinn‹: Die Berge ›bilden‹ eine Kette oder ›umschließen‹ ein Tal, der Bach ›gräbt‹ eine Schlucht, der Wald ›zieht sich‹ am Berghang hinauf.
Der Gestaltbegriff beschränkt sich nicht auf das Visuelle, sondern umfasst auch akustische, haptische, olfaktorische oder synästhetische Figuren im Wahrnehmungsfeld. Landschaften sind nicht nur Bilder, sondern auch Hörräume, Geräusch- und Geruchsfelder, und sowohl über die Fußsohlen als auch über den Hautkontakt mit der Luft kann eine Landschaft sich ›anfühlen‹. Visuell können wir unsere Landschaftswahrnehmung unter Kontrolle bringen, indem wir sie fotografisch fixieren. Bei den anderen sinnlichen Wahrnehmungsschichten gelingt uns das weniger gut, und es ist charakteristisch für unser Naturverhältnis, dass wir auf dieser Ebene zwar eindrückliche Wahrnehmungen haben, sie aber nicht in der gleichen Weise für kommunizierbar halten wie das, was wir in der Landschaft gesehen haben. Im Genre des Wanderreiseberichts spiegelt sich diese Fixierung aufs Visuelle als Armut der Sprache; das Synästhetische einer Landschaft ist ›unbeschreiblich‹ – aber vielleicht nur deshalb, weil wir nur beschreiben wollen, was wir auch beherrschen können.
(4) ›Dauerhaft‹ ist das Gestaltensemble insofern, als wir gewöhnlich die im Wahrnehmungsfeld auftretenden nicht-permanenten Gestalten nicht als Teil der Landschaft betrachten. Die Passstraße ist ein Eingriff in die Landschaft und wird ein Teil von ihr; das Auto, das auf dieser Straße fährt, bleibt aber etwas anderes. Auch das Reh, das aus dem Wald auf das Getreidefeld hinaustritt und eine Weile dort steht, ist kein Teil der Landschaft, sondern hält sich in ihr auf und durchstreift sie. Dass wir selbst als Wanderer ein Teil der Landschaft werden, ist eine Emphase des Wohlbefindens, der Aneignung und des Beheimatetseins, hat aber phänomenologisch kaum eine Berechtigung.
Landschaft ist also im Wesentlichen das, was in einem ›geografischen‹ Wahrnehmungsfeld von Dauer ist und sich als Gestalt wiedererkennen lässt, auch wenn sich die Erscheinungsweise unter dem Einfluss von Witterung, Lichtverhältnissen und Jahreszeiten ändert. Der Bach verändert seine Gestalt, wenn er im Winter fast gänzlich zu Eis erstarrt, aber er bleibt im Gestaltensemble als dieser Bach in dieser Landschaft erkennbar. Zumindest reden wir zumeist so, wenn wir über Landschaft reden, und nur das Erstaunen über das Ausmaß der jahreszeitlichen Veränderung könnte uns gelegentlich zu einer gegenteiligen Emphase veranlassen. Wir könnten dann sagen: ›Das Fjell ist im Winter eine ganz andere Landschaft als im Sommer‹, aber der differenzielle Sinn dieser Äußerung erschließt sich nur daraus, dass es sich eben geografisch um dieselbe Landschaft handelt.
Dass zudem die Landschaft eine Geschichte hat, die sich an ihrer Morphologie ablesen lässt, wenn man sie zu lesen versteht, ist zutreffend, spielt aber für die Idee des dauerhaften Gestaltensembles keine Rolle. Das Wahrnehmungs- und Mobilitätsfeld, das die Landschaft ästhetisch und praktisch für uns darstellt, mag sich verändern, aber es verändert sich nicht in relevanter Weise, während wir es betrachten oder durchqueren. Weil wir in einer leiblichen Eigenzeit existieren, die durch unsere Lebensdauer und die Zeitgesetze unserer Mobilität bestimmt ist, erscheint die Landschaft als etwas Statisches. Und wenn es einmal anders ist, wenn also zum Beispiel der ganze Hang ins Rutschen kommt und den Weg verschüttet, ist das eine Katastrophe für uns, weil wir uns gewöhnlich auf die Geschiedenheit der Zeitgesetze verlassen, also darauf, dass die Geschwindigkeit der morphologischen Veränderung der Landschaft gleichsam unendlich weit hinter unserer Bewegungsgeschwindigkeit zurückbleibt.
(5) Als ›vorwiegend natürlich‹ nehmen wir ein Gestaltensemble wahr, wenn die im Wahrnehmungsfeld vorkommenden menschlichen Artefakte die Wahrnehmung nicht (oder nicht als Artefakte) dominieren. Deshalb kann zum Beispiel ein geometrisch angelegter Park im Ganzen als künstliches architektonisches Gebilde erscheinen, ein Landschaftspark aber als Landschaft, obwohl wir wissen, dass diese Landschaft ebenfalls künstlich angelegt ist. Eine Eigenheimsiedlung mit großzügigen Gärten hingegen ist keine Landschaft, weil sie sich von vornherein als ein Ensemble zweckmäßiger Wohnvorrichtungen präsentiert.
Überhaupt ist die Stadt normalerweise das Gegenteil der Landschaft, weil sie ebenfalls nur aus zweckmäßigen Artefakten zu bestehen scheint. Trotzdem kann man mitunter von einer Stadtlandschaft sprechen, und zwar dann, wenn man das Gestaltensemble der Gebäude und ihrer Zwischenräume nicht mehr unter dem Aspekt ihrer jeweiligen Zweckmäßigkeit, sondern vorwiegend unter dem Aspekt ihrer Morphologie betrachtet und damit jene raumphänomenologische Sinnbeziehung in den Blick nimmt, durch die jede Gestalt im Wahrnehmungsfeld auf ihr Umfeld in irgendeiner Weise bezogen ist: Gebäude bilden Schluchten oder lassen Raum für Brach- und Grünflächen; Pflasterung, Treppen und Wege bilden ein charakteristisches Feld von Mobilitätsmöglichkeiten und Widerständen.
Für die Frage, ob ein Wahrnehmungsfeld ›Landschaft‹ ist oder nicht, kommt es nicht darauf an, ob das geografische Gestaltensemble als solches ›natürlich‹ oder sogar ›unberührte Natur‹ ist, sondern darauf, dass die Gestalten vorwiegend unter dem raumphänomenologischen Sinnaspekt und nicht unter dem Aspekt ihres zweckmäßigen Gemachtseins in Erscheinung treten. Ein Gebäude und eine Straße kann sich also in die Landschaft einfügen, insofern beide dort nur als Gestalten neben und zusammen mit anderen in Erscheinung treten: Der Weg schlängelt sich am Berg hinauf, das Haus duckt sich ins Tal. Aber am Zaun der Kaserne oder der Jugendherberge endet die Landschaft, weil hier die Wahrnehmung des Gebäudes durch seine Zweckmäßigkeit dominiert ist. Und andererseits kann ein Areal, das durch Energiepflanzenanbau geprägt ist, für den Wanderer unter Umständen immer noch eine Landschaft sein, genauso wie die Kulturlandschaft der Alpen oder irgendeine ›unberührte‹, d.h. ungenutzte Naturlandschaft für ihn eine Landschaft ist.
Abstrakt gesprochen wird in der vorgeschlagenen Definition von ›Landschaft‹ also auf den Modus der Wahrnehmung abgehoben, nicht auf eine ontische, ›ursprüngliche‹ Natürlichkeit der Gestalt oder des Gestaltensembles. Etwas als natürlich wahrzunehmen, bedeutet, es unter dem Aspekt seines räumlichen Gegebenseins, seines bloßen Daseins wahrzunehmen, nicht unter dem Aspekt seines Auf-einen-Zweck-hin-Gemachtseins.
Eine solche phänomenologische Vergewisserung über die Erscheinungsweise von ›Landschaft‹ ist die Voraussetzung dafür, das Wandern metaphorisch als einen ›Dialog mit der Landschaft‹ zu verstehen. Das Gegenüber, mit dem man beim Gehen in einen leiblichen Dialog eintritt, muss uns dabei als ›das Andere‹ widerfahren dürfen, also als eine Entität, die nicht durch Nutzenkalküle und auch nicht durch ein Schon-alles-Verstandenhaben vorerschlossen ist. Der Philosoph Gerhard Fitzthum hat das in dem oben bereits zitierten Text naturethisch zugespitzt, indem er sich auf Levinas’ theologische Ethik des Anderen bezogen hat. Diese ethische Wendung ist plausibel, aber man muss ihr als Phänomenologe gleichwohl nicht unbedingt folgen. Vorläufig würde es genügen, unter Beachtung verbleibender Unterschiede zwischen Menschen und Landschaften darauf hinzuweisen, dass sich die Landschaft dem Wanderer als Wirklichkeit eigenen Rechts und daher im Modus multiplen Widerstandes entgegenstellt. ›Widerstand‹ bedeutet hier nur, dass die ›Verfügbarkeit für uns‹ durch ein ›Ohne-uns-Dasein‹ eingeschränkt ist und wir das zu spüren bekommen. Erkenntnistheoretisch betrachtet ist solcher Widerstand ein Realitätsindikator. Die ethische Grundfrage, die sich daran anschließt und die jeder Wanderer, jede Wanderin im Gehen ungewollt beantwortet, ist die, inwieweit der Widerstand etwas ist, das ›gemeistert‹, also überwunden und beherrscht werden muss, oder vielmehr etwas, das erlebt und ›umspielt‹, hingenommen und ausgehalten werden soll.
Nachtrag:
Einer meiner philosophischen Offline-Gesprächspartner hat mich darauf hingewiesen, dass es der phänomenologischen Maieutik eigentlich nicht entspricht, mit einer Begriffsdefinition zu beginnen; ferner würde man leibphänomenologisch eher von einer ›Umgebung‹ sprechen als von einem ›Ausschnitt der Erdoberfläche‹. Das stimmt. Methodisch wäre von der konkreten Wahrnehmungserfahrung auszugehen, und aus ihr ließe sich dann ein Begriff entwickeln, der etwas Provisorisches behalten dürfte. Aber die etwas rigoros präsentierte Definition ist hier sozusagen das Gegengift gegen einen dominierenden Diskurs, nämlich die ›große Erzählung‹ von der neuzeitlichen Konstitution der Landschaft als ästhetisches Artefakt, als symbolische Totalität der Natur. Joachim Ritters Aufsatz »Landschaft« von 1962 ist in Deutschland der wesentliche Bezugspunkt dieses Diskurses. Ritter zufolge ist es Petrarca gewesen, der bei seiner Besteigung des Mont Ventoux im Jahre 1335 gleichsam zum ersten Mal ›Landschaft‹ in diesem Sinne in den Blick genommen und damit eine epochale Tradition begründet hat, in der eine ästhetische Totalansicht der Natur mit einer den Menschen befreienden technischen Naturbeherrschung ein harmonisches Kompensationsgleichgewicht bildet. Beides, so Ritter, gehört zusammen und ist ideologisch gleichermaßen legitim: Die technische Naturbeherrschung befreit den neuzeitlichen Menschen zur Kontemplation einer nunmehr schönen oder erhabenen Natur im Bilde der ›Landschaft‹. Daran scheint immerhin so viel Wahres zu sein, dass die meisten nachfolgenden Autoren und Autorinnen, die sich zu dem Thema geäußert haben, sich veranlasst sahen, Ritters Petrarca-Deutung und alles daraus Folgende ziemlich bedenkenlos nachzuplappern. Karikaturistisch könnte man das auch so formulieren: Seitdem Petrarca den Mont Ventoux bestiegen hat, ist Landschaft eine Sache, die man in Museen und Bibliotheken findet und dort untersuchen kann. Auch der Wanderer geht in ein Bild hinein und kommt als ein Stück Literatur wieder aus ihm hervor.
Eine leibphänomenologische Untersuchung des Wanderns muss diese Perspektive methodisch unterlaufen. Totalität, Schönheit und Erhabenheit der Natur sind dann zunächst nur Schleier, die sich vor die leibliche Wahrnehmung schieben und deren Gegenstände ›bis zur Konsumierbarkeit‹ unkenntlich machen. Es bedürfte nicht einmal eines Pathos der Unmittelbarkeit, um sich davon zu distanzieren; es genügte schon, festzustellen, dass die Umgebung, in die man zur gegebenen Zeit seine Füße setzt, weder ›schön‹ noch ›hässlich‹ noch ›erhaben‹ noch überhaupt ›die Natur‹ ist, sondern eben eine Umgebung, aus der bestimmte räumliche Gestalten hervortreten, die den Füßen bestimmte Möglichkeiten gewähren und andere versagen.
Die vorgeschlagene ›Definition‹ der Landschaft hat also eine negative, polemische Funktion: Sie ist eine Abrüstung des immer schon angedienten ästhetischen Landschaftsbegriffs auf das aisthesiologische Format des konkreten Wanderers, der sich in einer konkreten Umgebung bewegt. Vielleicht könnte man von daher auch die Begriffe der Erdoberfläche und der Natur aus der Definition eliminieren, indem man zum Beispiel sehr sparsam formuliert: ›Landschaft ist eine bei Nässe matschige Umgebung, der man nicht ansieht, wem sie gehört.‹
Hallo Igelstroem,
Einen sehr schönen Blog hast Du da! Ich freue mich schon sehr darauf, mich durch Deine Beiträge zu lesen.
Deine abgerüstete Landschaftsdefinition gefällt mir, mir ist dabei auch ein Gedanke gekommen, den ich kurz und ungeordnet mitteilen will:
Zuerst habe ich gestutzt über die (später relativierte) explizite Bezugnahme auf „Natur“ und wollte gleich erwidern: „aber was ist mit Stadtlandschaften?“, worauf Du selbst ja zu sprechen kommst. Deine „sparsame“ zweite Version hat die Natur dann aber auch nicht wie angekündigt eliminiert, als „Matsch“ ist sie doch eindringlich präsent!
Du machst ja klar, dass „Natur“ hier etwas heißt, das nicht (nur) in unserer Zwecksetzung aufgeht. Dass Du dabei von Natur sprichst, liegt nahe: die städtische Umgebung erfordert extra eine phänomenologisch-ästhetische Umstellung, um die ins Auge springende Bewandtnis abzudrängen und die Umgebung als „natürliche“ Landschaft zu sehen. In der „Natur“(im Alltagsverständnis) ist noch nicht so viel festgestellt: wir tun uns leichter über Matsch zu staunen, als über Asphalt.
An dieser Stelle frage ich mich nun, was genau den phänomenologischen Gehalt von „Natur“ ausmacht, die ja doch eng mit einem solchen Landschaftsbegriff zusammenhängt. Sicherlich merkt man ihr an, dass ihre Elemente (wie Steine, Bäume, Tiere) nichts menschengemachtes sind, auch wenn sie von Menschen gepflanzt/gehalten werden etc. – selbst in einer Fichtenplantage gleicht kein Baum dem anderen. Zugleich stellt sie sich nicht als ein radikal Anderes dar, sondern auch als Kosmos, dessen Teil wir selbst irgendwie sind. Dann haben wir nun aber das Phänomen Landschaft, das eine „natürliche Umgebung“ meint, in der wir nicht inkludiert sind und in die wir zugleich aber – als „Natur“ – auch irgendwie gehören.
Vor diesem Hintergrund lässt sich die (ethische) Frage nach dem Dialog mit der Landschaft im Wandern vielleicht anders betrachten.
Soviel trotz Müdigkeit,
beste Grüße,
Franz
Hallo Franz,
danke für den Kommentar.
Meine Auseinandersetzung mit den Begriffen Landschaft und Natur ist zum Teil durch Entzauberungsstrategien bestimmt. Einerseits ist Wandern zwar etwas anderes als Spazierengehen; deshalb braucht man einen Landschaftsbegriff, der die mehr oder weniger frei betretbare Gegend zum Beispiel von der geschlossenen Siedlung unterscheidet. Andererseits soll Wandern aber auch etwas anderes sein als erlebnisorientierter Naturkonsum. Wandern als Reiseform, also als Durchquerung von Landschaften gleich welcher Art, muss zumindest denkbar sein, wenn man sich vom Paradigma des Konsums lösen will. (Und darum geht es ja in diesem Blog allenthalben: Wie ist Wandern denkbar, wenn es nicht Konsum ist?)
Deshalb brauche ich einen Landschaftsbegriff, der einerseits an die frühe Geschichte des Begriffs anschließt, also den Gegensatz zur Artefaktwelt der Siedlung oder der Stadt beinhaltet, andererseits aber alle darüber hinausgehenden emphatischen Aufladungen (als ästhetische Totalität, als unberührte, wilde Natur und dergleichen) abstreift. Der Naturbegriff ist in diesem Zusammenhang nicht ganz vermeidbar, weil der Gegenbegriff zum Artifiziellen eben das Natürliche ist, so dass die Landschaft in irgendeinem Sinne ›natürlicher‹ sein muss als die Stadt und eben dadurch als Landschaft erkennbar wird. Eine Gegend mit intensiver landwirtschaftlicher Bodennutzung, zum Beispiel mit vorherrschendem Energiepflanzenanbau, ist freilich nicht Natur im emphatischen Sinne; sie ist aber gleichwohl eine Landschaft, die als Landschaft durchwandert werden kann, weil die angebauten Pflanzen, der gepflügte Boden, der angelegte Gehölzstreifen, das topografische Relief etc. selbst keine Artefakte, sondern (mehr oder weniger manipulierte) Naturgegenstände sind. Daher auch der ›Matsch‹, der anzeigt, dass die Artifizialisierung der Kulturlandschaft unvollständig ist; er ist sozusagen Indikator der Landschaftlichkeit im Unterschied zu einer versiegelten Siedlungs- und Verkehrsfläche.
Natur im phänomenologischen Sinne wäre dann also das, was einer Eigenlogik folgt, auch wenn die externe Zwecksetzung verlorengegangen ist: Das Gestein beharrt oder verwittert, das Wasser fließt bergab oder verdunstet, die nicht geerntete Maispflanze verwildert, die Fichtenplantage verwandelt sich in irgendeinen Naturwald. Darauf ist einigermaßen Verlass.
Aber viel Gedankenarbeit habe ich an dieser Stelle noch nicht investiert. Der Naturbegriff wird für den Landschaftsbegriff zwar gebraucht, aber seine vielfältige emphatische Aufladung ist zunächst einmal ein Hindernis. Mir scheint nämlich, dass gerade die Idee einer reinen Natur eine Vorstufe oder ein Anlass dazu ist, die Natur als ein Feld des Konsums zu betrachten. Das ganz Andere der Zivilisation ist die unberührte Wildnis, und die Sehnsucht danach generiert einen Zwang, sie aufzusuchen, sie zu meistern und sie zu fotografieren. Das Wandern als leibliche Tätigkeit beginnt hingegen am Rande der Siedlung und führt in eine Landschaft, die nicht von vornherein besonderen Ansprüchen genügen muss. Man findet dann allerlei Natürliches, aber nicht die grandiose, unberührte Natur.
Die Frage nach dem Kosmos ist sozusagen aufgeschoben. Ich würde gar nicht bestreiten, dass ›Kosmos‹ oder ›Schöpfung‹ eventuell sinnvolle Ideen sind, die sogar Erfahrungen beschreiben können. Aber als Leibphänomenologe würde ich sagen: Wir haben ja, wenn wir im Zusammenhang einer Naturerfahrung vom Kosmos reden, allzu viele Erfahrungsschichten ausgelassen oder übersprungen, ohne sie genau wahrzunehmen und genau zu beschreiben. Und dann besteht die Gefahr, dass wir zum Beispiel das Einssein mit der Natur als eine unmittelbare Erfahrung deklarieren, während es eigentlich noch eine bloß erwartete und geträumte Erfahrung ist.
Deshalb interessieren mich einstweilen (und ungeachtet dessen, was ich in meinem Vortrag über das Glück in der Natur gesagt habe) andere Fragen mehr: etwa die Frage, wie wir beim Wandern die Landschaft als unmittelbares Bewegungsfeld wahrnehmen, welchen Einfluss das auf unsere Leibwahrnehmung hat, wie sich die unmittelbare Wahrnehmung zu unserem gleichzeitigen geografischen und kartografischen Landschaftskonzept (d.h. zu unserem Orientierungshandeln) verhält, wieso wir uns später an bestimmte Orte und Wegstrecken genau, an andere aber kaum noch erinnern – und dergleichen mehr, was mit der phänomenologischen Pragmatik des Wanderns zu tun hat. Darüber, scheint mir, ist bisher zu wenig gesagt worden, und zwar unter anderem deshalb, weil man sich sozusagen voreilig darauf kapriziert hat, das Wandern als eine Beziehung zu ›der‹ Natur zu beschreiben.
Kurz: Ich finde die Frage nach dem Verhältnis von wanderndem Menschen, Natur und Kosmos zwar berechtigt, aber ich habe derzeit aus Vorsichtsgründen keine Antwort anzubieten. Meine Frage, was Wandern ist, wenn es nicht Konsum ist, ist aber vielleicht nur eine unverfänglichere Variante derselben ›ethischen‹ Frage.
Hallo Igelstroem,
danke für deine ausführliche Antwort. Leider finde ich mich trotz all der Anführungszeichen und „irgendwies“ auf der Seite der dualistischen Naturverkitscher und -konsumenten wieder, was ich als Phänomenologe ganz entschieden ablehne.
Tatsächlich folge ich ja Deinem nüchternen Naturbegriff, was ich an meinem Beispiel mit der Fichtenplantage, das Du auch aufgegriffen hast („Natur im phänomenologischen Sinne wäre dann also das, was einer Eigenlogik folgt“), ganz genau so deutlich zu machen versucht habe. Von „Kosmos“ habe ich ja auch nur mit der Einschränkung „irgendwie“ gesprochen, von Einssein rede ich erst recht nicht. Keine Frage, hier werden Erwartungen oft mit Erfahrungen verwechselt.
Meine Frage zielt eher in die Richtung, dass die Alteritätserfahrung, die wir an der Widerständigkeit der „Natur“ leiblich beim Wandern machen, durchbrochen wird von Momenten einer Identitätserfahrung. Dieser Ansatz bestimmt z.B. auch mein Denken zu Tieren: hier wird einmal etwas radikal Anderes sichtbar (was Derrida z.B. betont), aber zugleich gibt es Momente des „kreatürlichen“(?) Verstehens.
Analog dazu denke ich, dass es beim Wandern in der Landschaft Berührungspunkte gibt, an denen man „in eine Nähe zum Fernen“ gelangt, in dem das Andere der Landschaft nicht als Naturwildnis auf den Begriff gebracht und konsumierbar gemacht wird, sondern seine Andersheit behält (inkommensurabel bleibt) – und in dieser Andersheit aber teilweise auch vertraut wird.
Ich würde also die unverfügbaren Erfahrungen von Nähe in der „Natur“ stark machen. Deine Skepsis, dass man hierbei nur wieder vorschnell in das alte Schema zurückfällt, kann ich gut verstehen. Ich sehe halt umgekehrt bei den „Entzauberungsstrategien“ die Gefahr, aus ethischer Sorge um das Andere maßgebliche Momente von Nähe (wie immer die sich darstellen mögen) auszuklammern.
Die Erfahrung einer Nähe zur Natur habe ich in der Tat ausgeklammert – aber nicht deshalb, weil es eine solche Erfahrung nicht geben dürfte, sondern weil das Naturverhältnis im Zusammenhang mit ›Wandern‹ und ›Landschaft‹ gar nicht unmittelbar, sondern erst in irgendeinem weiteren Schritt zum Thema wird. In Deinem eigenen Blog ist das freilich anders, weil dort die Naturerfahrung ohnehin das zentrale Thema ist und das Wandern dann als eine Möglichkeit in Erscheinung tritt, Kontakt zur Natur aufzunehmen. Ich bin weit davon entfernt, das pauschal als Naturverkitschung zu bezeichnen; höchstens sehe ich die ›Gefahr‹, dass man bei der alltagssprachlichen Rede von Naturerfahrungen immer mal in die Nähe des Kitsches gerät, weil eben die Alltagssprache der Ort ist, wo solcher Kitsch durch den gemeinsamen Gebrauch von Redeweisen zu entstehen pflegt.
Dass ich mich im Moment selbst nicht auf den Aspekt der Naturerfahrung konzentriere, liegt daran, dass ich das Thema der leiblichen Bewegung im geografischen Raum weiter fassen möchte. Wir sind jetzt irgendwie daran gewöhnt, mit den Begriffen Wandern und Landschaft immer schon eine Naturerfahrung zu verbinden. Das liegt aber nur daran, dass heute der Wunsch nach einer solchen Naturerfahrung empirisch das häufigste Motiv des Wanderns ist. Früher muss es einmal anders gewesen sein; man war zum Beispiel als Nomade, als Handwerker, als Kulturreisender, als Regionalhistoriker oder als Infanterist in der Landschaft unterwegs (Seume, Fontane, Kurt Lewin). Auch heute noch werden aber die Gebirge auf dem Balkan nicht nur von Touristen, sondern zum Beispiel von Flüchtlingen zu Fuß überquert. Und selbst bei manchen Fernwanderern tritt das Naturerlebnis mit der Zeit in den Hintergrund, statt intensiver zu werden.
Für mich selbst spielt die Naturerfahrung (oder was ich dafür halte) beim Wandern durchaus eine wichtige Rolle, aber phänomenologisch interessiert mich zunächst, was es mit der Erfahrung des Wanderns unabhängig von diesem Motiv auf sich hat. Die Theorie soll allgemein und umfassend genug sein, dass man jede denkbare Form des ›Gehens in der Landschaft‹ damit ›einholen‹ kann.
Warum es eine solche Theorie überhaupt geben muss, ist – anders als bei der Frage nach unserem Naturverhältnis – nicht von vornherein klar. Ich nehme aber (wie ich früher schon mal geschrieben habe) an, dass sich in einer so allgemeinen Thematisierung des Gehens als leiblicher Tätigkeit einfach ein Unbehagen an der Virtualisierung des Weltbezugs ausdrückt: Weil wir uns meistens nur noch digital durch die Welt klicken, wird das analoge Selbst-zu-etwas-Hingehen plötzlich zu einem bedeutsamen Akt der leiblichen Wiederherstellung der Welt. Die Problematik des Naturverhältnisses im engeren Sinne ist damit weitläufig verwandt, aber nicht identisch.
Jetzt habe ich so lange deine Antwort übersehen! Eine schöne Überraschung sie jetzt zu finden. Und danke für die lange Erklärung, jetzt ist mir (endlich) alles klar!