Mehrtageswanderung von 81 km Länge im April 2017
<1> Einleitung
»Wo’s metaphysisch wurde, war’s ganz besonders schön.«
(Douglas Adams, aus dem Kopf zitiert)
»Was metaphysische Erfahrung sei, wird, wer es verschmäht, diese auf angebliche religiöse Urerlebnisse abzuziehen, am ehesten wie Proust sich vergegenwärtigen, an dem Glück etwa, das Namen von Dörfern verheißen wie Otterbach, Watterbach, Reuenthal, Monbrunn. Man glaubt, wenn man hingeht, so wäre man in dem Erfüllten, als ob es wäre. Ist man wirklich dort, so weicht das Versprochene zurück wie der Regenbogen. Dennoch ist man nicht enttäuscht; eher fühlt man, nun wäre man zu nah, und darum sähe man es nicht.«
(Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1966, S. 366)
In meiner Jugend war der Odenwald nur ein schemenhaftes blaugraues Gebilde links der Autobahn, dessen Auftauchen anzeigte, dass man bald den Schwarzwald erreicht haben würde. Also auch ein Versprechen, aber sozusagen nur als Vorschein des Eigentlichen.
Wenn man dann tatsächlich in eine solche Gegend fährt, um zu wandern, verwandelt sich die vage Vorstellung in eine ausgedehnte Wirklichkeit, in eine zugleich begrenzte und unerschöpfliche Welt aus Bergen und Tälern und Wäldern mit Wegen und einigen Häusern und einigen Menschen darin; eine Welt, die einem nicht gehört, in die man aber hineingehen kann, um das Erwartete oder das Unerwartete zu sehen, sich in Nähe und Distanz zu üben, sich zu gruseln, sich behaglich fröstelnd zur Ruhe zu legen und später nachts im grellen Mondlicht schlaftrunken seine Notdurft zu verrichten.
So war das auch diesmal wieder.
Reuenthal und Monbrunn waren keine metaphysische Erfahrung, sondern zwei Dörfer. Das darf einen nicht wundern, denn die Namen erschließen eine Welt und einen Glückszusammenhang nur dann assoziativ, wenn sie vorher, lange vorher, mit einem solchen Inhalt angefüllt worden sind. Adorno hat seine Kindheit in Amorbach verbracht. Für ihn liegen Reuenthal und Monbrunn auf einem heimatlichen Weg, den ich nur zufällig nachgegangen bin:
»Besser als mit der Kleinbahn nach Miltenberg zu fahren, die auch ihre Meriten hatte, war es, dorthin von Amorbach auf einem weiten Höhenweg zu gehen. Er führt über Reuenthal, ein sanftes Taldorf abseits vom Gotthard, angeblich die Heimat Neidharts, und über das stets noch einsamere Monbrunn, in geschwungenem Bogen durch den Wald, der sich zu verdichten scheint. In seiner Tiefe birgt sich allerhand Gemäuer, schließlich ein Tor, das man der Kälte der waldigen Örtlichkeit wegen Schnatterloch nennt. Durchschreitet man es, so ist man plötzlich, ruckhaft ohne Übergang wie in Träumen, auf dem schönsten mittelalterlichen Marktplatz.«
(Th. W. Adorno: Amorbach, in: ders., Ohne Leitbild, Frankfurt am Main 1967, S. 24, zitiert nach http://www.traumaland.de/downloads/f-0001.pdf)
Tourverlauf:
Tag 1 (5. April 2017): Neckarsteinach – Hoppehütte; 14,0 km
Tag 2 (6. April 2017): Hoppehütte – Haintal; 25,7 km
Tag 3 (7. April 2017): Haintal – Ruine Wildenburg; 21,5 km
Tag 4 (8. April 2017): Ruine Wildenburg – Monbrunn (Schutzhütte); 16,9 km
Tag 5 (9. April 2017): Monbrunn (Schutzhütte) – Miltenberg; 2,4 km
<2> Route, Relief und Wanderwege
Die Wanderung durch den Odenwald ist ein Teilstück meiner mehr oder weniger frei geplanten Diagonalroute von Bad Säckingen nach Potsdam. Da die einzelnen Abschnitte dieser Langstrecke unterschiedlich dimensioniert sind, verzichte ich auf die richtige Reihenfolge und wandere auf beliebigen Teilstrecken, je nachdem wie viel Zeit ich zum Verreisen habe. Die Odenwald-Strecke war in der Planung mit knapp 70 km angegeben, und um trotz Bindung an bestimmte Zugverbindungen nicht unter Zeitdruck zu stehen, habe ich dafür vier bis fünf Tage angesetzt: Anreise nach Neckarsteinach am Mittwoch, Abreise von Miltenberg am Sonntagabend. Die tatsächliche Route war mit 81 km wie üblich um 15–20 % länger als ursprünglich geplant, aber ich war trotzdem bereits am Sonntagvormittag in Miltenberg.
Wenn man einen Blick auf die Reliefkarte wirft, sieht man, dass im Odenwald die meisten Höhenzüge und Täler in Nord-Süd-Richtung verlaufen; ich muss aber im Wesentlichen von Südwesten nach Nordosten laufen, um die Richtung zu halten und bei Miltenberg den Spessart zu erreichen. Planmäßige Zwischenziele waren außerdem die Ruine Wildenburg sowie Amorbach. Daraus ergibt sich ein etwas zerfurchtes Höhenprofil; schon am ersten Tag bin ich vom Neckartal 300 Höhenmeter aufgestiegen, bei Hirschhorn wieder abgestiegen und abends zur Übernachtung wieder aufgestiegen. Auf der gesamten Route habe ich in häufigem Wechsel diverse markierte Wanderwege wie den Neckarsteig, den Nibelungensteig, den Limespfad sowie die regionalen Wanderwege HW 15 und HW 25 genutzt, hin und wieder aber auch unmarkierte Wege als Abkürzung verwendet.
Im Übrigen sind fast alle Wege Forststraßen gewesen. Auch auf dem Nibelungensteig sind schmale Pfade eher selten. Mich hat das kaum gestört, gewissermaßen schon deshalb nicht, weil es sich eben um einen Forst handelt, in dem die Forststraße die angemessene Wegeform ist. Man kommt dann gut voran und muss sich nicht darauf konzentrieren, wo man die Füße hinsetzt. Stattdessen schaut man in die Landschaft, die nun ihrerseits im Odenwald zwar anheimelnd, aber nur selten spektakulär ist. Und das Neckartal ist eben das Neckartal. Hier und dort gibt es einen schönen Ausblick, aber das Tal ist dicht besiedelt und der Ausblick geht manches Mal auf eine Industrielandschaft. Überhaupt sind die Täler, soweit in ihnen Straßen und Eisenbahnlinien verlaufen, vergleichsweise laut. Schon im Ittertal (in meiner Route Kilometer 36 bis 42) würde man sein Zelt unter anderem wegen des LKW-Verkehrs möglichst nicht aufschlagen wollen.
<3> Übernachtungen
Zweimal habe ich in offenen Schutzhütten geschlafen: in der ersten Nacht zwischen Hirschhorn und Eberbach (Hoppehütte), ferner in der letzten Nacht zwischen Monbrunn und Miltenberg.
Am zweiten Abend habe ich im Ittertal eine Weile erfolglos nach einem geeigneten Platz gesucht und bin dann schließlich, als es schon dämmerte, ins Haintal hineingelaufen, das ein unbesiedeltes Seitental des Ittertals ist. Letztlich bin ich zum Bach abgestiegen und habe mich dort mit Isomatte und Schlafsack ans Ufer gelegt, sichtgeschützt unter einigen großen Fichten.
Es hat sich wie eine Art Notbiwak angefühlt, denn eigentlich hätte ich lieber irgendwo an einer ›eindeutig geeigneten‹ Stelle das Zelt aufgeschlagen. Auf das Zelt habe ich am Bachufer sozusagen aus Diskretion verzichtet, weil der Bach die Grenze zwischen Kuhweide und Wald bildet und ich vorzugsweise weder auf einer Kuhweide noch im Wald zelte. Die Nacht war übrigens kalt und morgens fand ich die Wiese bereift, während mein Schlafplatz selbst durch die Fichten vor allzu starker Ausstrahlung geschützt war.
Während man einschläft, kann man aus dem Murmeln des Baches Stimmen heraushören: Es klingt wie eine Wandergruppe mit Kindern, die in einiger Entfernung vorüberläuft. Aber das ist nur eine Sinnestäuschung oder vielmehr ein alberner Versuch des Großhirns, aus jedem Geräusch irgendeinen zivilisatorischen Sinnzusammenhang zu basteln.
Wenn man in dieser Weise im Freien schläft, kann einem das morgendliche Anziehen der klammen, kalten Wanderhose als unangenehmster Moment des Tages erscheinen. Deshalb hole ich diesmal nach dem Aufwachen (früh um sechs wird es hell) die Hose aus dem Rucksack und nehme sie für eine Weile mit in den Schlafsack, um sie vorzuwärmen und dann möglichst noch im Liegen anzuziehen. Auch sonst ist eine im Detail etwas veränderte Logistik nötig. Die Schuhe stehen ja im Freien herum, und ich stecke dann einige Gegenstände, die ich nachts vielleicht brauchen könnte, hinein: die Wasserflasche; die Stirnlampe; irgendetwas zu essen.
Die dritte Nacht habe ich am sogenannten Teeplatz der Wildenburg verbracht, und zwar im Zelt. Eigentlich wollte ich innerhalb der Burgmauern schlafen, habe aber wegen des expliziten Verbotsschildes davon Abstand genommen, obwohl mir ein Einheimischer im vorletzten Dorf zugeraten hatte: Da sei abends keiner mehr, und »mehr als dass jemand kommt und meckert« könne ja nicht passieren. Das Verbotsschild droht indessen mit strafrechtlichen Konsequenzen.
Am nächsten Tag hat mir im Kloster Amorbach eine Angestellte jener fürstlichen Stiftung, der sowohl die Burg als auch das Kloster gehört, die Hintergründe erklärt – nicht ohne die Sanktionsdrohung wiederum zu relativieren. Im Palas-Bereich der Ruine ist neulich eine Wand eingestürzt bzw. droht einzustürzen, so dass dieser Teil zurzeit abgesperrt ist. Da die Stiftung eventuelle Haftungsrisiken natürlich nicht tragen möchte, ist nun auch der Aufenthalt innerhalb der Ruine nach Einbruch der Dunkelheit verboten.
Auf den ›Teeplatz‹, der etwas außerhalb und oberhalb der Burg liegt, hatte mich der erwähnte Einheimische bereits hingewiesen. Es gebe da eine kleine Höhle, in der man notfalls bei Regen schlafen könne. Die Höhle ist dadurch geschaffen worden, dass man eine Lücke zwischen den Felsen mit einem Gewölbe übermauert hat. Innen ist es allerdings sehr dunkel und der Boden ist etwas glitschig. Ich schlage also letztlich lieber mein Zelt auf dem ebenen Platz vor den Felsen auf und verbringe hier eine ruhige Nacht, die diesmal überraschend mild ist, nachdem die vorige überraschend kalt war. Der Preis dafür ist ein sehr grauer Himmel am Morgen.
Die Schutzhütte der vierten Nacht zwischen Monbrunn und Miltenberg habe ich gefunden, weil mich der Wirt des Gasthauses Jägerruh in Monbrunn darauf hingewiesen und mich sogar mit einer handgezeichneten und fotokopierten Wegbeschreibung ausgestattet hat. Das gehört sozusagen schon in das Kapitel ›Begegnungen mit Einheimischen‹.
Es war ungefähr halb sieben, als ich Monbrunn erreichte, denn ich hatte mich zuvor in Amorbach ziemlich lange aufgehalten. Mit einer Gaststätte in Monbrunn hatte ich eigentlich nicht gerechnet, aber da mein Weg daran vorbeiführte, bin ich auch für einen Kaffee hineingegangen. Eigentlich nicht hauptsächlich für einen Kaffee, sondern weil ich schon darauf spekulierte, dass ein Gespräch im Ort bei der Suche nach einem geeigneten Zeltplatz vielleicht hilfreich sein könnte.
Das Gespräch beginnt damit, dass der Wirt, als ich die Tür öffne, direkt vor mir steht, und weil mich das irgendwie aus dem Konzept bringt, halte ich die Türklinke noch in der Hand, ohne gleich etwas zu sagen. Das dauert ein paar Sekunden, und darauf folgt sozusagen eine interkulturelle, fränkisch-westfälische Gesprächseröffnung:
Wirt: »Die Tür geht von selber zu.«
Igelstroem: »Ich weiß.«
Später sitze ich dann draußen beim Kaffee und es entspinnt sich ein ausführliches Gespräch über meine Wanderung und über mögliche Übernachtungsplätze. Einen Zeltplatz oben am Waldrand zu finden, sei im Prinzip möglich, ich könne aber auch eine Schutzhütte nutzen – vorausgesetzt, sie müsse nicht unbedingt am Nibelungensteig liegen. Es gibt nämlich offenbar Wanderer, die hier eben auf dem Nibelungensteig unterwegs sind und sich nicht in der Lage sehen, von ihm abzuweichen. Das wird jetzt freilich mein Problem nicht sein.
Die Hütte liegt an einem Pfad, der von Monbrunn relativ direkt nach Miltenberg hinabführt und früher vor allem Schulweg gewesen ist.
In den Karten ist dieser Pfad nur ziemlich vage verzeichnet, aber der Wirt hat ihn selbst (mit blauen Farbpunkten an den Bäumen) markiert. Dazu gibt es jene kopierte Handskizze, die ich jetzt zum Abschied ausgehändigt bekomme. Der Weg ist übrigens, wenn man den richtigen Fahrweg zum Waldrand nimmt und den Einstieg findet, auch ohne diese Markierungen kaum zu verfehlen, und so erreiche ich die Hütte, die an einer Kreuzung des Pfades mit einer Forststraße liegt, nach einer knappen halben Stunde.
<4> Begegnungen
Zwischen Mountainbikern und Wanderern gibt es manchmal Konflikte. So gesehen hat es etwas Ironisches, dass irgendwann, während ich auf einer Forststraße daherspaziere und darüber nachdenke, warum man unterwegs keine anderen Wanderer trifft, jemand hinter mir »klingeling« sagt. Er fährt dann noch eine Weile neben mir und wir unterhalten uns nett über meine Wanderung und über Landschaftsformen im vorderen und hinteren Odenwald.
Ich bin geneigt, diese kleine Szene und die Art der Ansprache für landestypisch zu halten. Dass jemand einen Rucksack mit aufgeschnallter Isomatte trägt, ist ein Grund, ihn anzusprechen und ihn in ein Gespräch zu verstricken. Natürlich geschieht das nicht dauernd, aber es geschieht immer mal wieder; man muss dafür selbst nicht viel tun.
Nach der kalten Nacht im Haintal erreiche ich morgens um neun Uhr das Dorf Kailbach, das zu der Gemeinde Hesseneck gehört: größter Ort der kleinsten Gemeinde Hessens, wie man bei Wikipedia lesen kann. Dort gibt es unerwarteterweise eine Bäckerei- und Postfiliale, die freilich nur am Vormittag geöffnet ist. Ich komme also jedenfalls zur rechten Zeit und gehe hinein, um einen Kaffee zu trinken und vielleicht ein Brötchen zu kaufen. Letztlich bleibe ich hier eine Stunde und unterhalte mich ziemlich ausführlich mit der Betreiberin über vielerlei Dinge, die mit meiner Wanderung, meiner Ausrüstung, der Ortschaft und den hiesigen Menschen zu tun haben. Zwischendurch kommen etliche Leute aus dem Dorf herein und kaufen irgendwelche Backwaren, tauschen aber auch ortstypische Informationen aus. Es ist ein bisschen, als ob man ein Bilderbuch durchblätterte, oder vielmehr zwei, nämlich das eigene und das des Dorfes. Ich konsumiere noch einen zweiten Kaffee, lasse mir eine meiner Wasserflaschen mit Milch füllen und kaufe ein Croissant. Das heißt: Ich versuche es zu kaufen, aber als ich aufbreche, wird mir das Bezahlen meiner diversen Erwerbungen ganz erlassen. Und zwar gewissermaßen deshalb, weil mein Gegenüber dem Gespräch selbst etwas abgewinnen konnte. Meine Wanderung zeige ja, was ›trotzdem noch‹ möglich sei.
Kurz hinter Kailbach, beim Aufstieg zum Sachsenberg, treffe ich noch jemanden. Aber ich spreche nicht mit ihm, sondern schaue nur zu ihm auf, denn er sitzt in einem Flugzeug und macht Lärm. Kippt elegant zur Seite und ist weg. Es ist das erste Mal seit vielen Jahren, dass ich beim Wandern wieder direkt von einem Kampfflugzeug überflogen werde.
Einige Kilometer weiter, als ich im Breitenbachtal meinen Rucksack wie üblich auf den Forstweg gelegt und mich daraufgesetzt habe, kommt ein Sportflugzeug angeflogen. So klingt es jedenfalls. Aber dann ist das Sportflugzeug plötzlich zwischen den Bäumen. Und es ist auch gar kein Sportflugzeug, sondern ein Utility Terrain Vehicle, auf dem jemand mit hoher Geschwindigkeit durch den Wald rast. Ich springe von meinem Sitz auf, greife meinen Rucksack und werfe ihn auf den Grasstreifen neben dem Weg, aber der Fahrer hat sich schon für die andere Abzweigung entschieden, so dass zur Verlangsamung aus seiner Sicht kein Anlass besteht. Ich sehe ihn auf den nächsten Kilometern bis zur Breitenbacher Kapelle noch mehrmals, denn er fährt hierhin und dorthin und schüttet anscheinend jeweils einen der Eimer aus, die auf seiner Ladefläche stehen. Wahrscheinlich Wildfütterung. Man beginnt angesichts der dabei an den Tag gelegten Hektik zu ahnen, dass das Los des Jagdpächters generell ein sehr schweres sein muss. Um seinen Pflichten nachzukommen, muss er sich wie ein Wahnsinniger verhalten. Immerhin ist er so höflich, bei der letzten Begegnung an der Kapelle mit unveränderter Geschwindigkeit über die angrenzende Wiese statt über den Schotterweg zu heizen, sonst hätte er mich vermutlich in eine Staubwolke eingehüllt.
Andere Streckenwanderer habe ich unterwegs, wie schon angedeutet, nicht getroffen, auch nicht auf dem Nibelungensteig. An bestimmten touristischen ›Interessenspunkten‹ trifft man aber Ausflügler, so zum Beispiel bei Amorbach an der Gotthardsruine. Auch hier werde ich nach einer Weile angesprochen, von einer Dreiergruppe im fortgeschrittenen Alter. Und nach einer Weile stellt sich heraus, dass einer der beiden Männer für die Markierung des Nibelungensteigs zwischen Ottorfszell und Miltenberg zuständig ist. Wir studieren also die Karte, um meine tatsächliche Route mit ihren Abweichungen vom Nibelungensteig nachzuvollziehen, und diskutieren die Frage, inwiefern die Schutzhüttensymbole auf den Karten zu ungenau positioniert sind. Ihm als Einheimischen ist das noch nicht aufgefallen, denn er weiß ja meistens, wo die Hütte tatsächlich liegt.
Nebenbei erfahre ich noch, dass seine Frau eine Cousine der Gaststättenwirtin in Ottorfszell ist, wo ich gestern eingekehrt bin. Das ist eine kleine Skurrilität, die ähnlich auch schon bei meiner Wanderung in Oberfranken vorgekommen ist. Ernst Jünger hätte wahrscheinlich nicht von Skurrilität, sondern von ›geheimer Korrespondenz‹ gesprochen. Die Gegend ist zwar dicht besiedelt, aber es kann trotzdem sein, dass man, wenn man die 10 Kilometer von A nach B zurückgelegt hat, entweder jemanden in B wiedertrifft oder die Verwandtschaft sozusagen auch noch kennenlernt.
Als ich am Sonntagmorgen in Miltenberg vor der Burg stehe und auf den Main hinuntersehe, klingt aus der Kirche ein Choral zu mir herauf, wie zur Begrüßung. Das ist ganz schön, denn sonst ist es ringsumher noch ruhig. Das Burgtor ist geschlossen. Irgendwann kommt jemand angefahren, schließt auf, trägt Sachen hinein. Ich frage ihn, ob er wieder zuschließt, denn eigentlich will ich ja hinein. Ja, er schließt wieder zu. Aber ich lese, dass das Museum irgendwann später am Vormittag öffnet.
Da mein Zug ohnehin erst am Abend geht und ich also viel Zeit in Miltenberg verbringen muss, gehe ich um die Mittagszeit wieder hinauf und besichtige die Burg von innen. In dem kleinen Konzertsaal treffe ich den Mann wieder, der heute Morgen den Kram hineingetragen hat. Nein, er sei nicht der Musiker, sondern bei dem Konzert sozusagen für alles andere zuständig. Ein Beethoven-Konzert auf historischen Instrumenten. Unser Gespräch geht trotzdem mehr übers Wandern (und über Ausrüstungsfragen) als über Musik, und es ist ziemlich ausführlich.
Man bemerkt eventuell eine gewisse Asymmetrie. Anders als bei einem Journalisten, der eine Region bereist, um sozusagen Originaltöne der Provinz aufzuzeichnen, steht in den Gesprächen oft meine Wanderung im Mittelpunkt. Das liegt einesteils daran, dass ich in dieser Hinsicht auskunftsfreudig bin und den Leuten auch mal ›ein Ohr abkaue‹, wenn sie keinen Widerstand leisten. Andererseits hat sich das, was der User Ultraheavy im ODS-Forum geschrieben hat, genau bestätigt: »Rucksackträgern gegenüber sind die Einheimischen ausgesprochen wohlgesonnen«. Das heißt, sie interessieren sich mitunter dafür, was es mit dieser Wanderung auf sich hat und wie ich das im Detail mache, inklusive der Übernachtungs- und Verpflegungspragmatik.
Vermutlich ist es eine konventionelle Übertreibung, wenn man sagt, dass man beim Wandern Land und Leute kennenlernt; dazu müsste man zumindest länger hier sein und sich mehr auf die eigenen Belange der Einheimischen einlassen. Umgekehrt ist es aber ein Aspekt der ›impliziten Gastfreundschaft‹, dass die Einheimischen gewissermaßen wissen möchten, wie sie besucht werden. Jemand besucht ihre Heimat und hat seinerseits eine Idee davon, wie er das machen will. Das stößt auf ein eigenständiges Interesse und ist deshalb Gesprächsgegenstand. Fragen der Art, wie viel Geld man in die Region bringt und ob man beim Schlafen das Ordnungsrecht des jeweiligen Bundeslandes verletzt, werden dabei kaum tangiert – auch dann nicht, wenn der Gesprächspartner zum Beispiel selbst vom Tourismus lebt.
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